Aus der Not geboren

Spontan initiierte Hilfsaktion von Haus Overbach: 41 Geflüchtete aus der Kriegsregion gerettet

Die Flotte ist sicher zurück in Haus Overbach angekommen. (c) privat
Die Flotte ist sicher zurück in Haus Overbach angekommen.
Datum:
16. März 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 11/2022 | Mira Otto

Die gebürtige Ukrainerin Nataliya Danylyuk ist seit 2014 Dozentin am Science College Overbach in Jülich-Barmen. Angesichts der kriegsbedingten Not in ihrem Heimatland suchte sie Hilfe im Haus Overbach,  einem Stammsitz des Ordens der Oblaten des heiligen Franz von Sales und seit 2018 in Trägerschaft des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland (CJD).  Über Nacht fiel die Entscheidung, Sachspenden zu sammeln, zur ukrainischen Grenze zu bringen und auf der Rückfahrt mit den Transportern Kriegsflüchtlinge mit in Sicherheit zu nehmen. 36 Geflüchtete haben im Haus Overbach eine erste sichere Bleibe gefunden. 

Pater Manfred Karduck segnet die engagierten Helfer vor ihrer Abfahrt in das Kriegsgebiet. (c) privat
Pater Manfred Karduck segnet die engagierten Helfer vor ihrer Abfahrt in das Kriegsgebiet.

Rückblende: Eine Woche mit sehr wenig Schlaf, sehr vielen Telefonaten und noch mehr Arbeit sind die Folge der schwerwiegenden Entscheidung. „Ich muss das Ganze erstmal begreifen. Der Krieg in der Ukraine hat ein unglaubliches Ausmaß angenommen“, sagt Nataliya Danylyuk. „Ich habe Angst um andere Menschen, weil ich und meine Familie sehr viele Verwandte in der Ukraine haben, dort, wo Städte schon zerstört wurden, wohin wir seit zwei, drei Tagen auch keinen Kontakt mehr haben. Wir denken nur an sie.“

Schnell wird das Foyer des Science Colleges zur Lagerhalle. Zahlreiche Menschen folgen dem spontanen Zuruf und bringen die dringend benötigten Sachspenden vorbei. Windeln, Kleidung, Medikamente und Lebensmittel beispielsweise wurden in Umzugskisten gepackt, beschriftet und teilweise mit netten Grüßen versehen. „Es war heute richtig viel los“, freut sich Philipp Mülheims, Leiter des Science Colleges, am ersten Tag. Dennoch wird am Folgetag noch eine zweite Abgabemöglichkeit organisiert, da beispielsweise noch Zahnbürsten, Schnuller, Kuscheltiere und Tragetücher gebraucht wurden. In einer Hau-Ruck-Aktion werden die Kartons zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Fahrzeuge geladen. 
Zeitgleich melden sich Freiwillige, die den Konvoi begleiten würden. Darunter drei Fahrer für den Laster, eigentlich ein Fahrschulfahrzeug des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland. „Wenn wir in der Situation wären, würden andere auch helfen“, sagt Berufsfahrer Markus Jansen, der zusammen mit Aziz Zelmat und Karl-Gert Kerres den Sattelzug über die Grenze bringt.

Privatpersonen und Unternehmen zeigen sich solidarisch

Unternehmen aus dem Umland stellen acht Transporter, die ebenfalls vollgeladen und von drei Fahrern begleitet werden. Joseph Steinschulte, der im Konvoi eines der Fahrzeuge lenkt, sagt: „Eine tolle Sache zum Unterstützen. Vor uns liegt eine lange Hinfahrt. Die Rückfahrt wird dann noch mal spannend, weil die Verständigung mit den ukrainischen Kindern schwierig werden wird. Aber das werden wir schon irgendwie hinbekommen.“ 
Peter Feddersen war eine Woche vor dem Start des Konvois des Science Colleges schon einmal in der Ukraine. Damals brachte er in einem Pferdeanhänger mit der Unterstützung von Freunden 1,5 Tonnen Hilfsgüter zur Grenze und eine Mutter und ihre zwei kleinen Kinder im Alter von drei und sechs Jahren sowie die Familienkatze mit zurück nach Deutschland. „Ich habe im Leben eine Menge Glück gehabt. Ich denke, ich kann auf diese Art und Weise einen kleinen Teil wieder zurückgeben“, sagt er auf die Frage, warum er nun erneut losfahre.

Am Dienstagabend kurz nach 19 Uhr treten alle vor der Abfahrt zusammen. „Allen ein extrem großes Dankeschön. Wir alle tun das aus demselben Grund. Nataliya hat gefragt, ob wir etwas tun können, auch weil das Haus Overbach Gästehäuser hat“, erzählt Mühlheims und zählt auf, wie die Aktion wuchs, vom Sattelzug des CJD über zusätzliche Sprinter, der Spendenbereitschaft der Menschen im Jülicher Land und schließlich der Bereitschaft von immer mehr Freiwilligen, den Konvoi zu begleiten.

„Wir fahren heute los bis nach Chelm. Das liegt im Dreiländerdreieck zwischen Weißrussland, der Ukraine und Polen. Das sind über 3000 Kilometer. Wir werden im Konvoi fahren. Das ist ganz wichtig, damit keiner zurückbleibt“, richtet Mülheims das Wort an die Helfer. „Ich habe mit der Bildungsdezernentin aus Chelm gesprochen. Die werden gerade von Flüchtlingen überrannt. Die Lebensmittel werden knapp. Wir haben Leute dabei, die übersetzen können und die in der Traumahilfe ausgebildet sind. Es warten jetzt schon Menschen auf dem Parkplatz in Chelm auf uns. Dabei sind Kleinkinder ab einem Jahr, Mütter und auch eine Oma.“ Dann mahnt Mühlheims eindringlich: „Es ist Chaos, das da herrscht. Immer bei den Fahrzeugen bleiben. Zusammenbleiben. Ruhe bewahren. Keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen.“

Mit dem Segen unterwegs in das Grenzgebiet der Kriegsregion

Die vielen in Deutschland gepackten Kartons werden an der polnisch-ukrainischen Grenze entladen. (c) privat
Die vielen in Deutschland gepackten Kartons werden an der polnisch-ukrainischen Grenze entladen.

Zuletzt tritt Pater Manfred Karduck vor die Menschen, spricht ein Gebet und den Segen für die Gruppe der Engagierten: „Wir bitten um den Schutz Gottes für die Fahrt für die Mitmenschlichkeit und den Frieden. Wir bitten die Schutzengel, uns zu begleiten. Begleite die Helfer und lasse die Frauen und Kinder erfahren, dass sie in den Fahrzeugen geschützt sind.“

Nach einer langen Nacht und der Überquerung der polnischen Grenze gegen fünf Uhr morgens kommt der Konvoi schließlich in Chelm an. Hier werden die Hilfsgüter in einer großen Lagerhalle abgeladen. Anschließend werden die Flüchtlinge in Zusammenarbeit mit den polnischen Behörden auf die Autos verteilt. „Wir sind durch das Chaos gelenkt worden“, sagt Mülheims. Zwei Dinge werden ihm besonders in Erinnerung bleiben. Am Hauptbahnhof Chelm trifft er auf einen deutschen Malteser. Als dieser herausfindet, dass die Deutschen Flüchtlinge transportieren und auch einen Rettungssanitäter mit an Bord haben, führt der Malteser Mülheims zu einer hochschwangeren Frau. Sie ist für diese oder nächste Woche ausgezählt. „Uns wurden drei Nabelschnurklemmen und ein Wehenhemmer in die Hand gedrückt und uns wurde erklärt, wie wir das Kind im Notfall auch auf der Autobahn auf die Welt bringen können.“ Die Schwangere hat es glücklicherweise mit Baby im Bauch in die Herzogstadt geschafft.

Einer der Sprinter ist noch nicht besetzt, und so wird als nächste Station ein Frauenhaus angesteuert. Als die Wagen vorfahren und die Menschen die deutschen Kennzeichen erkennen, bildet sich eine Menschentraube um die Fahrzeuge. Die Polizei schützt die Autos. „Ich werde das nie vergessen. Als wir das Haus betraten, stand wie in einem Lichtkegel die Bürgermeisterin im Raum und hat uns in absoluter Ruhe mitten im Chaos in eine Halle geführt, in der 4000 Feldbetten standen.“ 30 Zentimeter Platz sei zwischen den Reihen gewesen. Teilweise liegen Menschen mit schweren Kriegsverletzungen in den Betten. Mit vollbesetzten Fahrzeugen wird die Tour zurück nach Jülich fortgesetzt.  
Lautes Autohupen kündigt den Konvoi auf dem Schlossplatz von Haus Overbach an. Voller Spannung wartet ein kleines Empfangskomitee auf die Helfer und die Geretteten. Völlig erschöpft, aber größtenteils von einem zum anderen Ohr strahlend steigt die Gruppe aus. „Wir sind zurückgekehrt! Wie versprochen“, lacht Nataliya Danylyuk altbekannte Gesichter an. Ein Satz, den man von den Wiedergekehrten immer wieder hört und verdeutlicht, in welche Gefahr sich die Helfer begeben hatten.

Insgesamt wurden 41 Menschen gerettet. Das Haus Overbach hat 36 Geflüchtete aufgenommen, darunter Kleinkinder, eine Hochschwangere, eine ältere Dame und einen Hund. Sie können nun in der friedlichen Atmosphäre des historischen Geländes hoffentlich zur Ruhe kommen, Frieden finden und sich erholen.

Die Aktion soll bald wiederholt werden. Fahrer können sich unter der Mailadresse info@sciencecollege.de melden. Außerdem soll bald eine Mailadresse eingerichtet werden, unter der sich Anwohner rund um das Haus Overbach melden können, die noch Platz haben und Betten zur Verfügung stellen können.