Im Jahr 2011 wurde im Bistum Aachen das Projekt Kirchliches Immobilienmanagement (KIM) gestartet. Da für den Betrieb und die Instandhaltung aller pfarrlich genutzten Gebäude nicht mehr genügend Finanzmittel zur Verfügung standen und stehen, müssen die Kirchengemeinden im Bistum auf rund ein Drittel der Zuschüsse zu den Instandhaltungskosten verzichten.
Damit reagierte das Bistum Aachen auf einen Prozess, vor dem niemand die Augen verschließen kann: Das Interesse an einer aktiven Teilnahme an den Angeboten der Kirche nimmt stetig ab und es gibt immer weniger Priester und hauptamtliche Laien im pastoralen Dienst. Die Zeiten, in denen man von einer Volkskirche sprechen konnte, sind vorbei. Das gilt erst recht angesichts der jüngsten Schlagzeilen.
In der Folge dieser Entwicklung, die alle christlichen Kirchen in Deutschland betrifft, wurden seit 2000 bistumsweit mehr als 500 katholische Kirchengebäude aufgegeben, rund die Hälfte davon in NRW. Es drohen Leerstand, Verkauf oder Abriss – und damit gehen oft auch Name und Geschichte der Kirche verloren. Dem wirkt das Projekt „Invisibilis“ entgegen. Ruth Schlotterhose sprach mit Karin Berkemann, die den „Kirchenwiederfinder“ ins Leben rief.
Was war der Anlass, das Projekt „Kirchenwiederfinder“ zu starten?
Als Theologin und Kunsthistorikerin habe ich ab 2008 zu den Nachkriegskirchen in Frankfurt am Main promoviert und für die Denkmalpflege lange hessische Kirchen inventarisiert. Es wurde immer sichtbarer, dass die beiden großen christlichen Konfessionen an Finanz- und Mitgliederstärke verlieren und sich daher von ihren Kirchen verabschieden. Oft konnte ich lediglich den Abriss dokumentieren oder den bereits verlorenen Bauten hinterherrecherchieren. Manchmal ließ sich die Spur nur noch über Umwege aufnehmen – mit einem alten Stadtplan oder durch den Tipp von Passanten. Gerade bei diesen verlorenen Kleinkirchen, Betsälen und Gemeindekirchen verschwindet der Name schnell aus der Öffentlichkeit. Die Website wird gelöscht, die kleine Einweihungsschrift hat es meist nicht bis in die Bibliotheken und Archive geschafft. Dabei finden sich unter diesen Bauten so viele charmante, wertvolle und kluge Konzepte. Daher bin ich zur Jahreswende 2016/17 mit dem Projekt „Invisibilis“ online gegangen. Ich wollte meine eigenen Daten öffentlich zugänglich machen und das Wissen vieler Menschen zu diesem Thema vernetzen. Im besten Fall lässt sich so die Aufmerksamkeit auf eine bedrohte Kirche lenken.
Invisibilis möchte verschwundene oder vom Verschwinden bedrohte Kirchen (wieder) sichtbar machen. Warum ist das wichtig?
Kirchen sind öffentliche Räume, an denen Lebensgeschichten und Erfahrungsschatz vieler Menschen greifbar werden. Oft sind diese Bauten künstlerisch bemerkenswert, denn hier wollte man einen guten Rahmen für wirkliche Begegnungen schaffen. Solche Freiräume werden immer kostbarer – versuchen Sie mal, in einer Fußgängerzone einfach nur auf einer Bank zu sitzen, ohne etwas zu konsumieren … Daher sammelt Invisibilis die Daten bedrohter, geschlossener, umgenutzter oder abgerissener Kirchen auf einer virtuellen Karte.
Im Rheinischen Braunkohlerevier fallen auch historische Kirchen der Baggerschaufel zum Opfer. Ansonsten aber werden häufig Gebäude der Nachkriegszeit umgenutzt oder abgerissen. Woran liegt das?
Invisibilis konzentriert sich auf die besonders bedrohten Kirchen der Modernisierungsschübe von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Oft entstanden diese Bauten in neuen Stadtteilen, die ihr Versprechen nicht einlösen konnten: Der geplante U-Bahnanschluss und das erhoffte Bevölkerungswachstum blieben aus. Wenn dann die Erbauergeneration alt wird, wenn die soziale Struktur umbricht, stellt man auch die Kirchen zur Disposition. […] Mit Blick auf Klimaschutz und Ressourcenschonung ist jeder Kirchenabriss unvernünftig. Die Fantasie, das Können und die „graue Energie“, die in diese Bauten gesteckt wurden, sollten der Öffentlichkeit durch eine kreative Umnutzung oder eine behutsame Umgestaltung erhalten bleiben. Kirchen sind zu schade für eine kurzsichtige Renditeoptimierung. In den Braunkohlerevieren wird das besonders drastisch sichtbar. Warum man daran festhält, Wälder, Kirchen, ganze Dörfer für eine überholte Energieform wegzubaggern, entzieht sich meinem Verständnis.
Wie ist die Resonanz auf „Invisibilis“?
Die große positive Resonanz hat mich selbst überrascht: 2021 verzeichnete Invisibilis über 58000 Zugriffe. Das Projekt ist eng vernetzt mit weiteren Forschungsinitiativen, um Daten auszutauschen und sich gemeinsam für bedrohte Kirchen einzusetzen. Oft melden sich ehemalige Gemeindeglieder, die in einer Kirche getauft wurden und im Jugendraum ihren ersten Kuss erlebten. Zunehmend schreiben auch Kinder und Enkel der beteiligten Architekten und Künstler. Seit fünf Jahren funktioniert Invisibilis als Forschungsdatenbank und Abrissmelder, als ein Stück Erinnerungspflege und Familienforschung.
Wie groß ist Ihr Team? Auf welchem Weg gelangen Informationen zu Ihnen?
Invisibilis ist Teil des baukulturellen Online-Magazins „ModerneREGIONAL“, dessen Kernteam aus zwei Herausgebern und drei Redakteuren besteht. Wir machen das alle neben dem Studium oder den Brotberufen her. Speziell Invisibilis wird von mir bearbeitet. Immer mehr Menschen schicken Bilder und Informationen, die ich dann überprüfe, auswerte und einpflege. Darüber hinaus recherchiere ich selbst weitere Beispiele und halte die alten Einträge aktuell. Unterwegs schaue ich immer wieder bei bedrohten Kirchen vorbei. Invisibilis lebt von dieser Balance – ein Mitmachprojekt mit einer stabilen fachlichen und redaktionellen Betreuung.
Gibt es eine Region, die besonders stark im Kirchenwiederfinder vertreten ist? Wenn ja, woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Rund die Hälfte der bedrohten, geschlossenen, umgenutzten und abgerissenen Kirchen auf Invisibilis stammt aus Nordrhein-Westfalen. Hier entstand im späten 19. und im 20. Jahrhundert ein sehr dichtes Netz oft besonders qualitätvoller Kirchen. Und hier zeichnen sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche besonders drastisch ab. Lange
waren vor allem Städte von dieser Entwicklung betroffen. Inzwischen haben die Umwälzungen aber verstärkt das Land, zunehmend den Süden und den Norden der Republik erreicht.
Und zuletzt die obligatorische Frage: Wie wird das Projekt finanziert?
„ModerneREGIONAL“ ist eine anerkannt gemeinnützige Unternehmergesellschaft, die ähnlich funktioniert wie ein Verein. Wir tragen uns durch Spenden, Mitgliedschaften, unseren kleinen virtuellen Unterstützer-Shop und viel ehrenamtliches Engagement. Vor allem bei Sonderprojekten helfen uns Förder- oder Kooperationspartner. Für Invisibilis hält „ModerneREGIONAL“ die technische Infrastruktur und Software bereit, meine Arbeitszeit für Invisibilis stelle ich unentgeltlich zur Verfügung – ganz bewusst, um hier völlig unabhängig berichten zu können. Alle Invisibilis-Daten gibt es online im Open-Access, sprich gratis. So kann sich jeder informieren und damit weiterarbeiten. Nur so entsteht ein kollektives Gedächtnis für Kirchenbauten.
Den Kirchenwiederfinder können Sie hier einsehen: https://www.moderne-regional.de/kirchen/
Dr. Karin Berkemann, Diplom-Theologin, Kunsthistorikerin M. A., Architektin in der Denkmalpflege (Fortbildung), von 2008 bis 2018 tätig für das Landesamt für Denkmalpflege Hessen, von 2015 bis 2018 Online-Redakteurin der „Straße der Moderne“, seit 2014 Mit-Begründerin und
-Herausgeberin des baukulturellen Online-Magazins „ModerneREGIONAL“, dafür 2018 ausgezeichnet mit dem Deutschen Preis für Denkmalschutz, seit 2013 Kustodin der Dalman-Sammlung an der Universität Greifswald, seit 2021 Kuratoriumsmitglied der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.