Aufgabe: Opposition

Jugendlichen fehlt Lobby. Sie sind in der Wahrnehmung der Politik wenig im Blick

In Coronazeiten war Gemeinschaftspflege oft nur digital möglich. (c) www.pixabay.com
In Coronazeiten war Gemeinschaftspflege oft nur digital möglich.
Datum:
8. Sep. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 36/2021 | Dorothée Schenk

Es gibt rund 70 katholische Einrichtungen Offener Kinder- und Jugendarbeit im Bistums Aachen. Sie arbeiten seit 16. März 2020 unter erschwerten Bedingungen. Für sie gelten nicht die Regeln von Kindertagesstätten oder Schulen. Welche genau, sei immer neu zu klären gewesen. Diese unklare Positionierung ist symptomatisch für den Blick auf Jugendliche, kritisiert Sascha Römer, Leiter des Jugendtreffs Roncalli-Haus der Jülicher Pfarrei Heilig Geist. Dabei leisteten diese Einrichtungen einen entscheidenden Beitrag zur ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen. 

Sascha Römer. (c) Dorothée Schenk
Sascha Römer.

Um ansprechbar für seine „Schützlinge“ zu sein, war Roncalli-Haus-Leiter Sascha Römer zwölf Stunden pro Tag in den sozialen Netzwerken unterwegs, verabredete sich zu Einzelgesprächen an frischer Luft und war in der sogenannten „aufsuchenden Jugendarbeit“ vor Ort an den bekannten Treffpunkten. „Wenn dir wichtig ist, dass du den Kontakt hältst, machst du das. Andere Kollegen waren fast rund um die Uhr erreichbar“, schildert er den Alltag der Jugendarbeit zu Lockdown-Zeiten.

Von viel Kreativität und überdurchschnittlichem Engagement auch über die Regionengrenzen hinweg berichtet Karina Siegers, Fachbereichsleitung Jugend im Aachener Generalvikariat. Das reichte sogar bis zur Ausgabe von Kochtüten inklusive Rezept und Anleitung in Vierteln, in denen besonders benachteiligte Jugendliche mit ihren Familien leben. Diese Aktion habe beispielsweise das Bistum finanziell unterstützt. „Das geht natürlich über den klassischen Auftrag der Kinder- und Jugendarbeit weit hinaus. Aber es galt, Angebote zu schaffen und die Türen offen zu halten, die eigentlich geschlossen waren.“ 

Weil Jugendarbeit Beziehungsarbeit ist, Ermöglichung von Partizipation – also Teilhabe und Beteiligung an Entscheidungsprozessen – sowie „selbstbestimmte Wirksamkeit“, ist es für viele Einrichtungsleitungen in der Jugendarbeit eine Selbstverpflichtung, Sprachrohr für Jugendliche zu sein und sich überdurchschnittlich persönlich einzubringen – auch über die Stellenbeschreibung hinaus. 

Regelbrecher und Partymacher – ein  Zerrbild in der öffentlichen Wahrnehmung  

Karina Siegers. (c) Dorothée Schenk
Karina Siegers.

Der Frust über die mangelnde Wahrnehmung der Bedeutung ihrer Arbeit, vor allem aber der fehlende Blick auf „ihre“ Jugendlichen ist es, was die in Jugendarbeit Tätigen wirklich umtreibt. „Es ist wichtig, Kitas auszubauen – nur die Kids werden größer“, gibt Sascha Römer zu bedenken. „Ich habe es in einer Ausschusssitzung mal für Jülich vorgetragen: Es gibt 33 Kinderspielplätze im Stadtgebiet, aber keinen einzigen funktionierenden Bolzplatz.“ Den Grund für diese Schräglage sieht Karina Siegers in der öffentlichen Wahrnehmung: „Welches Bild wurde von jungen Menschen in der Coronazeit gezeichnet? Es waren die Regelbrecher, die, die wieder Party gemacht haben. Dabei hat es nicht das reale Bild widergespiegelt. Die meisten haben sich sehr stark an die Regeln gehalten, ihre Freizeit und damit letztlich ihre Entwicklung eingeschränkt. Studien haben bestätigt, dass Jugendliche primär als Lernende im Sinne von ,Schüler sein‘ gesehen werden und weniger, dass sie ein Leben ,drumherum‘ haben und Freizeit genauso wichtig ist.“

„Einen breiten Rücken habe ich“, sagt Sascha Römer, „aber ich würde mir in den Strukturen ein breiteres Rückgrat wünschen, damit Jugendarbeit und damit auch die Jugendlichen mehr Gewicht bekommen.“ Um Veränderungen oder Verbesserungen herbeizuführen, müsste immer Aufmerksamkeit erzeugt werden, auf Missstände hingewiesen und Qualitätsstandards oder Förderprogramme immer wieder eingefordert werden. „Es sollte ein ureigenes Interesse der Politik sein, die Jugendlichen mit ins Boot zu nehmen. Das sind die künftigen Wähler. Eigentlich müssten nicht wir dafür werben, dass die Politik die Jugend richtig wahrnimmt und sie auch als Jugend in ihrer Vielfalt versteht.“ Ralf Arnolds, Referent für kirchliche Jugendarbeit der Regionen Düren und Eifel, bringt es auf den Punkt: „Ich möchte doch starke Kinder haben, die selbstbestimmt sind und sich ausprobieren, sich engagieren, für etwas stehen, eine Meinung haben. Das können Jugendliche auch, aber dafür müssen sie einen Raum haben, in dem sie experimentieren können. Das ist ganz schön anstrengend. Jugend hat eine Entwicklungsaufgabe, und die heißt Opposition. Wenn ich mich aber dafür öffne, sie höre, bekomme ich irgendwann auch eine Eintrittskarte. Wenn ich das geschafft habe, habe ich etwas ganz Wertvolles in der Hand.“ 

Auf vielen Ebenen aktiv und nicht müde werden 

Ralf Arnolds. (c) Dorothée Schenk
Ralf Arnolds.

Gebündelt werden die Stimmen der Leitungen der Jugendeinrichtungen in der 
katholischen „Landesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder und Jugendarbeit“, die wöchentlich einen festen Termin mit dem zuständigen NRW-Ministerium hat. „Die LAG war ein wichtiger Solidaritätspartner für die Praxis“, sagt Ralf Arnolds. Sie hätten die „Stolpersteine“ gesammelt und mit an den Gesprächstisch genommen. „Außerdem gibt es die Jugendverbände, die unter dem Dach des BDKJ – Bund deutscher katholischer Jugend – stark politisch aktiv sind“, ergänzt Karina Siegers. Sie nimmt wahr, dass sich in jüngster Vergangenheit auf Landesebene doch allerlei getan habe. „Ich erlebe, dass Kirche in der Politik ein ernstgenommener Player ist in der Kinder- und Jugendarbeit.“

Aber natürlich sei auch da die Einflussnahme begrenzt. „Wir können die Bedarfe formulieren. Ob sie umgesetzt werden, liegt ein Stück weit an den Entscheidungsgremien in der Politik.“ Es gelte, auf verschiedenen Ebenen aktiv zu werden, um die Wichtigkeit der außerschulischen Bildung zu betonen. Dass zur ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung mehr gehört – etwa Gemeinschaft erleben, sich austesten und auch musisch-kreativ zu sein. Damit nicht hinterher eine Generation junger Menschen entstünde, die nur Schulstoff gelernt hätte. „Da ist definitiv noch viel Luft nach oben“, räumt Karina Siegers ein. „Es gehört aber auch zur Jugendarbeit dazu, auf allen Ebenen nicht müde zu werden.“