Der Weg ist das Ziel. Besser lässt sich das Vorhaben kaum beschreiben, das vier Paare aus dem „Ruhrpott“, vom Niederrhein, dem Münsterland und aus Hildesheim planen. Als historische Pilgergruppe auf den Spuren der Menschen um 1300 machen sie sich zur Heiligtumsfahrt 2021 auf den Weg nach Aachen.
„Wo zwei oder drei …“ Im christlichen Liedgut bestens verhaftet ist die Grundlage für die Idee. Im vergangenen Sommer saßen Carsten Giesen und Sonja Utzenrath mit Mai-Britt von Wiechmann und ihrem Partner Philipp Heil zusammen in Brandenburg beim Historienevent „Archaeotechnika“. Als „Pilger“ waren die Paare dabei und kamen ins Sinnieren: „Wie wäre es, wenn wir zur Heiligtumsfahrt …“ Von der Idee bis zur konkreten Planung war es dann nur ein kleiner Schritt.
Die Koordinierung hat Carsten Giesen aus Viersen übernommen. Mit seiner Frau ist der „Pilger“ mit dem Hauptberuf Elektrotechnikentwicklungsingenieur schon seit 2004 in Wenau aktiv und gestaltet die Tage des offenen Denkmals rund um das alte Kloster mit. Als geistliche Frau und als Chorherr der Prämonstratenser sind die beiden unterwegs. Sie sind keine Schauspieler, sie sind historische Archetypen. Die historische Grundlage ist ihnen wichtig. „Nicht die reine Unterhaltung“, erklärt Sonja Utzenrath, „sondern Wissensvermittlung ist der Kern unseres Tuns.“ Für das Paar gilt, wie für alle Mitglieder der Pilgergruppe, dass die Geschichte sie trägt. Recherche und eigene Nachforschungen bilden die Grundlage.
Das bestätigt auch Mario Pfordt, im bürgerlichen Leben Bankkaufmann in Wattenscheid. Auf seiner Internet-Seite Tremonia1300.de schildert er, wie er mit seiner Frau Ulrike das bürgerliche Leben Anfang des 14. Jahrhunderts in Szene setzt. Publikumswirksam geschieht dies beispielsweise auch auf Veranstaltungen des Museums Dorenburg in Grefrath. Benjamin Lammertz und Sabine Staske aus Herne haben städtisches Leben um 1300 im Fokus, wie auf der Seite inforo1300.wordpress.com zu sehen ist. Hier kommen also eine Reihe von Geschichtsspezialisten zusammen und bilden damit einen wahrhaftigen und guten Querschnitt an Menschen ab, die sich auch damals für eine Pilgerschaft entschieden hätten.
Das letzte Paar im Bund sind Philipp Heil und seine Partnerin Mai-Britt. Sie sind die einzigen, die bereits Erfahrung als Pilger mitbringen, denn die beiden waren schon auf dem Jakobsweg unterwegs – allerdings ganz „heutig“. Diese Erfahrung hat sie bewegt, denn es sei schon ein Unterschied, ob man nur darüber lese oder sich tatsächlich auf den Weg mache. „Ich freue mich darauf, den Abgleich mit der Wirklichkeit anzutreten. Ohne modernes Schuhwerk oder Rucksack mit Hüftgurt, nur mit Umhängetasche. Was passiert, wenn es regnet, und ich nicht die moderne Windjacke dabei habe?“ Ein Aspekt, der sie auch bewegt: „Was bedeutete Pilgern damals, und was ist der Unterschied zur Tradition, die es heute gibt?“
Eine ganz pragmatische Antwort lautet: Die Ausstattung, und dabei ist vor allem das Schuhwerk gemeint. Es erfordere Übung, klärt Sonja Utzenrath auf, auf den Lederschuhen, deren Beschaffenheit am ehesten mit der von Barfußschuhen vergleichbar sei, eine lange Strecke zu gehen. Nicht nur, dass die Füße und die Muskulatur es nicht gewöhnt sind, der Untergrund, gibt Benjamin Lammertz zu bedenken, ist heute ein ganz anderer. Schotterwege sind eben eher für Wanderschuhe gemacht als für dünn besohltes Schuhwerk. Jeder hat so seine Teststrecke, auf der er üben wird. Die „Trainingseinheit“ von Carsten Giesen und Sonja Utzenrath ist der Irmgardispfad von der Klause in Süchteln bis St. Helena. Er hat in etwa das Höhenprofil, das die Gruppe 2021 absolvieren möchte.
Ansonsten geht jedes Mitglied der Pilgergruppe in seiner eigenen Gewandung: als Städter, Bürger, als Ordensvertretung, denn schließlich ging man meist mit der Bekleidung, die man bereits besaß. Dazu kommen eine tönerne Trinkflasche, die im Töpfereimuseum Langerwehe nach historischem Vorbild gefertigt worden ist, Pilgerstäbe, die bestellt sind, und Aachhörner. Eine Spezialität der Region, denn die Pilgerhörner wurden vor allem in rheinländischen Töpfereistandorten produziert. Sie sollen der Tradition folgend auf dem Katschhof geblasen werden, wenn die Reliquien präsentiert werden – sofern die Organisatoren der Heiligtumsfahrt das gestatten.
Und hier kommt der geplante Pilgerweg ins Spiel, denn genau getaktet sein müssen die Wegstrecken, damit die Gruppe pünktlich am Ziel ankommt. Treffpunkt ist das Kloster in Wenau am Abend des 18. Juni 2021. Von dort aus geht es am Folgetag zum Kloster nach Kornelimünster. Hier betten sie nicht nur die müden Häupter und Füße zur Ruhe, auch die Erhebung der Reliquie wollen sie erleben. Ziemlich früh aufstehen müssen die Pilger, um dann den Weg zum Katschhof vor Beginn der Messe zu schaffen.
Was treibt sie an? Damals wie heute sind nicht alle in der Pilgerschar gleich beseelt und tief kirchenverbunden. Aber Glauben spielt dennoch eine Rolle, im bürgerlichen Leben wie in der Historiendarstellung. Die Protestantin Mai-Britt feiert gerne die katholi- schen Feste, „sie haben einfach die schöneren Rituale“, dann gibt es Benjamin Lammertz, der sich als Atheist bezeichnet, aber die katholische Kirche qua Amt verteidigt. Bei der Geschichtsvermittlung muss oft genug mit dem Klischee aufgeräumt werden, die Kirche hätte damals pauschal alle
Andersdenkenden verbrannt. Sie hat sicherlich ihren Teil Unrecht in der Zeit begangen, doch vieles, was ihnen zugeschrieben wird, taten auch der Mob und weltliche Herren. Die Geschichte ist komplex.
Mario Pfordt bringt einen weiteren Aspekt ein: „Wir haben uns im Rahmen der Wissensvermittlung auch mit dem Thema Reisen im Mittelalter beschäftigt, und in dem Zusammenhang liest man von den unterschiedlichsten Arten zu pilgern. Angefangen damit, dass testamentarisch festgelegt worden ist, dass jemand aus dem Erbe fürs Pilgern bezahlt wird, damit dem Verstorbenen die Sünden vergeben werden, bis hin zu Menschen, die auf den Knien auf entsprechenden Gestellen ihre Strecke gepilgert sind. Darüber kann man lesen, es auf Abbildungen sehen, aber die eigene Erfahrung ist eine ganz andere Dimension.“ Engagiert ist das Paar Utzenrath/Giesen: „Wir haben über die Beschäftigung mit dem Orden und der Alltagswirklichkeit des Ordens angefangen, uns für Gregorianik zu interessieren“, erzählt Sonja Utzenrath. „Wir singen in einer Gregorianik-Schola und transportieren die Gesänge auch als Stundengebete in Veranstaltungen hinein.“ Katholisch sozialisiert bis in die Großvater-Generation, hat Carsten Giesen gerungen, um naturwissenschaftliches Denken und Glaube überein zu bringen. Er weiß aber auch um die Wirkung des Rosenkranzgebetes durch die stetige ritualisierte Wiederholung. Auf einer Schüler-Wallfahrt erlebte er als Jugendlicher die meditative Wirkung. „Ich bin gespannt, was das Pilgern heute mit mir macht.“
Sabine Staske bringt für alle abschließend auf den Punkt, was am Ende des Weges steht: „Das hättest Du niemals erlebt, wenn Du es nicht selbst ausprobiert hättest.“