Auf geht’s zu neuen Ufern!

Kirchliche Einrichtungen unterstützen benachteiligte Jugendliche auf dem Weg in ein eigenständiges Leben

Schule ist das eine. Handwerklich begabt zu sein und sorgfältig mit Materialien zu arbeiten, damit etwas Schönes entsteht, ist das andere. Jugendliche erfahren sich in der Holzwerkstatt in Stolberg noch einmal anders und neu. (c) Jugendberufshilfe Stolberg
Schule ist das eine. Handwerklich begabt zu sein und sorgfältig mit Materialien zu arbeiten, damit etwas Schönes entsteht, ist das andere. Jugendliche erfahren sich in der Holzwerkstatt in Stolberg noch einmal anders und neu.
Datum:
21. Apr. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 16/2021 | Thomas Hohenschue

Es gibt Themen, die begleiten das Bistum Aachen bereits seit Jahrzehnten, ohne an Aktualität und Bedeutung einzubüßen. Wie etwa der Einsatz für Menschen, die es auf dem regulären Arbeitsmarkt schwer haben. Jahr für Jahr wird für Arbeitslosenprojekte geworben und gesammelt, in den Kirchen und außerhalb. Mit dem Geld der Gläubigen und Spender wird gearbeitet. Zum Beispiel an den Zukunftsperspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Mit den eigenen Händen etwas Sinnvolles für die Gemeinschaft schaffen, wie zum Beispiel ein Hochbeet, macht den Jugendlichen bei In Via Aachen Spaß. (c) In Via Aachen
Mit den eigenen Händen etwas Sinnvolles für die Gemeinschaft schaffen, wie zum Beispiel ein Hochbeet, macht den Jugendlichen bei In Via Aachen Spaß.

Das traditionelle Kollektenwochenende naht, es findet auch in diesem Jahr am ersten Maiwochenende statt, also gleich am 1. und 2. Mai. Das ist aber auch das Einzige, was gleich ist. Ansonsten hat das Anliegen genauso mit Corona zu kämpfen wie die meisten anderen. Die Gotteshäuser werden aus Gründen des Infektionsschutzes weniger besucht sein als sonst, und entsprechend geringer werden die Kollekten ausfallen. Das verstärkt einen Trend, der bereits vor der Pandemie eingesetzt hatte. Viele Spender überweisen inzwischen das Geld für den guten Zweck direkt auf das Konto der Solidaritätsaktion für arbeitslose Menschen.

Was geschieht mit diesem Geld? Besuche vor Ort geben einen Einblick, wie es wirkt. Es versickert nicht in Verwaltungsstrukturen, sondern es hilft, mit wirtschaftlich und sozial benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu arbeiten, sie auf ihrem Lebensweg einige Schritte zu begleiten mit der Hoffnung auf ein erfülltes, selbst verantwortetes und gestaltetes Leben. Diesem Engagement von Christinnen und Christen im Bistum Aachen spürt die KirchenZeitung bei einer kleinen Rundreise nach. Das gerät zu einer spannenden Tour mit eindrucksvollen Entdeckungen.


Wenn die Schule alleine nicht reicht, braucht es die persönliche Begleitung

Die erste Station liegt im Norden der Diözese, im Süden von Krefeld. Die Menschen, die rund um die Kirche St. Martin leben, haben häufig keine Arbeit oder gehen einer nur niedrig entlohnten, unsicheren Beschäftigung nach. Ihre Wohnsituation ist oft beengt und schlecht. In diesem Umfeld wachsen Kinder und Jugendliche unter Bedingungen auf, die eine reguläre Schullaufbahn erschweren oder gar unmöglich machen. Dies gilt umso mehr, wenn ihre Familien erst vor kurzer Zeit nach Deutschland gezogen sind. Sprachbarrieren und Verständnisprobleme prägen vor diesem Hintergrund den Alltag vieler Haushalte in Krefeld-Süd.

„Wir sind hier genau richtig“, bekräftigt Hella Saternus. Die Pädagogin leitet das Sozialwerk Krefelder Christen, das sich auf die Begleitung benachteiligter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener spezialisiert hat. Die Pfarrei stellt dieser Einrichtung ein ganzes Haus direkt an der Gemeindekirche zu günstigen Konditionen zur Verfügung. Die Lage ist ideal: Nur wenige Meter entfernt befindet sich der Ort, an dem viele der Mädchen und Jungen, um die es geht, täglich lernen sollen: die Kurt-Tucholsky-Gesamtschule. Nur: Manche ihrer Schüler sieht diese Schule selten, sporadisch, spät. Einzelne betreten das Gebäude monatelang überhaupt nicht.

Das sind Momente, in denen die Hilfe des Sozialwerkes händeringend gesucht wird. Seine Mitarbeitenden gehen in die Familien, klopfen an, bauen Vertrauen auf. Ist der Fuß in der Tür, können Schritt für Schritt Herausforderungen gesehen und in Angriff genommen werden. Mal stellen die Sprachschwierigkeiten die Barriere dar. Dann hilft beharrlicher, geduldiger, guter Sprachunterricht. Nicht in der Schule, sondern im Haus des Sozialwerks. Auch andere schulische Defizite, die sich in der bisherigen Schülerkarriere aufgebaut haben, können aufgelöst werden. Und weiteres Rüstzeug, das häufig fehlt, aber vorausgesetzt wird, erhalten die Mädchen und Jungen, etwa Computerkenntnisse und Arbeitstechniken.

Was hier beharrlich aufgearbeitet wird, ist in den Augen von Hella Saternus der Flurschaden, den eine zwar gut gemeinte, aber fehlgesteuerte Inklusionspolitik bei bisherigen Förderschülern anrichtet. Was nutzt diesen die Integration in eine Regelschule, wenn Lehrplan und Personalschlüssel nicht angemessen angepasst werden? Das Sozialwerk schätzt das Engagement der Schule und des pädagogischen Personals, aber alle Beteiligten stoßen an ihre Grenzen. Die Schulsozialarbeit fängt einiges auf. Die Kooperation von Gesamtschule und Sozialwerk Krefelder Christen fördert mit ideenreichen, aktivierenden Angeboten und Projekten das Miteinander der Kulturen und Milieus an der Schule und im Stadtteil. Das öffnet Türen für die wirtschaftlich und sozial benachteiligten Jugendlichen, bevor sie völlig abgehängt sind. Ziel ist, sie darin zu unterstützen, ihr Leben selbstverantwortet in die Hand zu nehmen. 


Den Jugendlichen helfen, Steine aus dem schweren Rucksack zu entfernen

Was es braucht, damit so etwas gelingt, ist die richtige Einstellung. Wohlgemerkt nicht nur der Jugendlichen, sondern auch derer, die mit ihnen Kontakt aufnehmen und arbeiten. Wie es geht, lebt Heiko Bodonge vor. Den Sozialpädagogen trifft man bei der zweiten Station der Rundreise durchs Bistum an: bei In Via Aachen. Der Verband unterhält in der Bischofsstadt mit „Motivia“ eine Einrichtung, die mit langem Atem und guter Haltung Mädchen und Jungen unterstützt, welche die Gesellschaft häufig schon abgeschrieben hat. Bezeichnend dafür ist der Begriff „Schulverweigerer“, der sich eingebürgert hat, aber die Situation klischeehaft auf vermeintliche individuelle Defizite von Jugendlichen reduziert. Oft geht es aber um ganz anderes, erzählt Bodonge.

Die Mädchen und Jungen, um die es geht, kommen häufig aus Lebenslagen, die ihnen einen regelmäßigen und regulären Schulbesuch erschweren oder unmöglich machen. Das fängt mit der familiären und häuslichen Situation an. Bodonge kennt viele Jugendliche, die schon viel zu früh viel zu große Verantwortung übernehmen müssen, etwa für Geschwister oder für ein suchtkrankes Elternteil. Manche Mädchen und Jungen haben selbst psychische Schwierigkeiten, leiden zum Beispiel unter Angststörungen oder großer Scheu, sich unter Menschen zu mischen. Andere trügen autistische Züge, seien hochbegabt und im Verhalten isoliert. Und natürlich gibt es auch die Probleme, die dem Klischee näher kommen: falsche Freunde oder das Elternhaus, das mit einem bürgerlichen Leben und Lernen wenig anfangen kann.

Vor diesem Hintergrund will Heiko Bodonge nicht von „Schulmüden“ oder gar „Schulverweigerern“ sprechen, sondern sagt ganz sachlich und wertungsfrei, dass diese Jugendlichen „schulabsent“, schulabwesend seien. Und er setzt mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Team von Bereichsleiterin Hildegard Kaufmann noch einen drauf: Wissend, dass es oft Bedingungen sind, die den Mädchen und Jungen das Durchstarten in Schule und Beruf erschweren, stehen bei Motivia die Stärken im Vordergrund, die sie haben. Da ansetzen heißt, ihnen zu helfen, Stück für Stück Steine aus dem Rucksack zu entfernen, den sie mit sich herumschleppen. Das können ganz verschiedene Herausforderungen, Probleme und Projekte sein, weshalb das offene persönliche Gespräch zählt. Bei Motivia wird jeden Tag gepaukt, aber immer ist Zeit, über das zu sprechen, was gerade ansteht.

Das ist sogar ein tägliches Ritual, um gut in die gemeinsame Lernzeit zu starten. Die Jugendlichen erzählen, wie es gerade so aussieht und wie sie drauf sind.  Eines ist klar: In ihre alte Schule werden sie nicht mehr gehen, aber sie machen bei Motivia in kleinen Lerngruppen ihren Hauptschulabschluss und lernen jede Menge für ihr Leben. Dies gelingt dank der Kooperation mit der Bischöflichen Marienschule in Aachen, die Lehrkräfte zur Verfügung stellt. Hauswirtschaft, Gartenarbeit und Ähnliches mehr bauen Brücken für ein selbstständiges Leben, das nicht nur den Ellenbogen kennt, sondern auch das Miteinander. Oft gelingt das, wie Besuche von Ehemaligen zeigen, die mit ihren eigenen Familien vorbeischauen, was aus Motivia so wird.

 

Da gibt es etwas Neues jenseits der oft frustrierenden Schullaufbahn

Solche Besuche, welche die Nachhaltigkeit der eigenen pädagogischen und sozialarbeiterischen Arbeit unterstreichen, kennen und erfreuen auch die Fachkräfte der Jugendberufshilfe Stolberg. Ganze Generationen von Kupferstädtern haben die Jugendwerkstatt des Vereins durchlaufen, die dritte Station der Rundreise durchs Bistum auf den Spuren der kirchlich geförderten Arbeitslosenarbeit.

Die Pädagoginnen setzen ebenfalls an den individuellen Stärken von Jugendlichen an, sei es eine handwerkliche, kreative, musikalische oder sprachliche Begabung. Die Hauptsache ist, die Mädchen und Jungen entdecken etwas Neues jenseits ihrer meist hoch frustrierenden und wenig Mut machenden Schullaufbahn. Die Jugendwerkstatt erleben sie so anders als die Schule, die sie häufig überfordert und abschreckt. Zwar gibt es auch in der Jugendwerkstatt Regeln, die fordern und einzuhalten sind. Aber zugleich gibt es ungeahnte und ungewohnte Freiheiten, sich in einem geschützten Raum zu entfalten. 
Die Lernschwächen und Verhaltensauffälligkeiten der Mädchen und Jungen haben meistens eine sehr lange Geschichte. Den Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen werden nun neue Erfahrungen von einem guten Miteinander und entspannter Selbstwirksamkeit entgegengesetzt. Die Jugendlichen probieren sich in der Holz-, Textil- oder Gartensparte der Jugendwerkstatt aus. Parallel findet Lernförderung statt, um einen ersten schulischen Abschluss zu ermöglichen. 
Viele kleine Schritte sind hier zu gehen und es gilt, immer ein offenes Ohr zu haben für die persönlichen Sorgen und Nöte, die jeder mitbringt. Nicht erst seit der Pandemie fällt auf, dass immer mehr junge Menschen durch das Raster des durchaus riesigen Hilfesystems fallen. Sehr betroffen gemacht hat Leiterin Katja Knospe und ihr Team, als 2020 erstmals wohnungslose junge Erwachsene bei ihnen anklopften. Bislang greifende Systeme schienen ihre Wirkung verloren zu haben.

Die Ziele in der täglichen Arbeit in der Jugendwerkstatt sind nicht zu hoch gesteckt. Neue Enttäuschungen kann niemand gebrauchen. Das Wichtigste ist erstmal zu entdecken, was man wirklich gut kann und gerne macht. Auch die Sinnfrage ist häufig Thema. Was ist mir wichtig und wie soll mein Leben morgen aussehen? Überhaupt geht es um Werte bei der Arbeit in Stolberg. Es wird Rücksicht gelehrt und eingeübt, die Übernahme von Verantwortung, Toleranz gegenüber den anderen. Auch die preußischen Tugenden spielen eine große Rolle, wobei trotzdem klar ist: Jeder hat sein eigenes Tempo beim Lernen und Arbeiten, und das kann er hier, im Gegensatz zur Schule, auch entsprechend selbst wählen.

Laut und lustig ist es im Alltag und bei den kreativen Projekten, die sie gemeinsam gestalten in der Jugendwerkstatt. Stolz präsentieren sich die Jugendlichen auf den sozialen Medien, als Rapper zum Beispiel. Manche fühlen sich so wohl bei der Jugendberufshilfe, dass sie gar nicht mehr weg wollen. Diese Nesthocker müssen die Pädagoginnen sanft oder auch kräftig anschubsen, ihre Flügel auszubreiten und einen eigenen Weg zu 
flattern. Gerne dürfen sie mal wieder vorbeischauen, aber Sinn der Übung war nun mal, dass sie ihr Leben aus eigener Kraft mit den eigenen Möglichkeiten gestalten.

Mehr unter www.solidaritaetskollekte.de.