Mouhanad Khorchide, geboren 1971 in Beirut und aufgewachsen in Saudi-Arabien, ist seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster. Dort leitet er das Zentrum für Islamische Theologie (ZIT). Als Muslim hat er sich auf den Jakobsweg begeben und darüber das Buch „Ein Muslim auf dem Jakobsweg“ veröffentlicht. Mouhanad Khorchide berichtete über seine Erfahrungen in einer Online-Veranstaltung der Bischöflichen Akademie Aachen. Gerd Felder sprach mit ihm darüber.
Herr Prof. Khorchide, wie kam es dazu, dass Sie sich als Muslim entschlossen, auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela zu gehen?
Mouhanad Korchide: Die Idee kam mir total spontan kurz vor den Pfingsferien im Jahr 2023, als ich mich total am Limit fühlte und ein paar Tage Pause machen wollte, um neue Energie zu tanken. Da der Vorlesungsbetrieb an der Universität Münster ruhte, wollte ich die Gelegenheit nutzen. Dabei erinnerte ich mich an eine Bekannte, die mir einmal von der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela erzählt hatte. Ich hatte also die Hoffnung, dadurch aus der Tretmühle der Arbeit herauszukommen und eine Erfahrung der anderen Art zu machen.
Welche Erfahrungen haben Sie früher mit dem Pilgern gemacht?
Korchide: Ich habe als Kind mit meinen Eltern in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad gewohnt, die nicht weit von Mekka entfernt ist, und habe die große Pilgerfahrt, die sogenannte Hadsch, zweimal gemacht und die kleine Pilgerfahrt etwa zehnmal. Wenn wir Muslime diese Pilgerfahrt machen, fliegen wir nach Jeddah oder Taif und fahren von dort aus mit dem Taxi oder dem Bus nach Mekka. Dort geht es dann los mit dem Pilgern, und man umrundet die Kaaba nach streng vorgeschriebenen Ritualen insgesamt siebenmal. So ähnlich habe ich mir das auch in Santiago de Compostela vorgestellt.
Sie sind also direkt nach Santiago de Compostela geflogen. Was haben Sie dann dort erlebt?
Korchide: Ich kam dort um 21 Uhr an und musste feststellen, dass die Kathedrale geschlossen war, während in Mekka die heilige Moschee rund um die Uhr geöffnet ist. Schon bald kamen mir Leute entgegen und gratulierten mir, dass ich es geschafft hätte. Ich antwortete erstaunt, dass ich noch gar nichts gemacht hätte und eben mit dem Flugzeug angekommen sei. So haben wir eine Zeitlang aneinander vorbeigeredet. Irgendwann haben sie verstanden, dass ich dort etwas hineinprojiziert habe, was gar nicht zutrifft, und mir erklärt, dass der Weg nach Santiago das Ziel ist und man mindestens 100 Kilometer zu Fuß gegangen sein muss, um als Pilger anerkannt zu werden. Auch müsse ich Wanderschuhe mitnehmen. Ich wunderte mich: Warum Wanderschuhe?
Wie haben Sie auf diese Tipps reagiert?
Korchide: Ich habe mir gesagt: Wenn ich 100 Kilometer zurücklegen muss, um als Pilger gelten zu können, dann gehe ich eben den Weg bis zur spanischen Stadt Sarria zurück. So habe ich es dann auch gemacht. Mir war allerdings nicht klar, dass mir dann ständig Pilger entgegenkommen würden, die mir zurufen, dass ich in die falsche Richtung gehe. Manche meinten auch, ich sei ein besonders eifriger Pilger, weil ich den Weg hin und zurück gegangen sei. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass man unterwegs so viele Gespräche führen kann. Mich interessierten die Rituale, die man einhalten muss, und musste dann feststellen, dass es auf dem Jakobsweg überhaupt keine Rituale gibt.
Welche Erkenntnisse haben Sie bei den Gesprächen mit anderen Pilgern gewonnen?
Korchide: Am meisten hat mich überrascht, dass kaum jemand von Gott gesprochen hat. Das hatte ich ganz anders erwartet, denn im Islam gilt die Pilgerfahrt nach Mekka als fünfte Säule unserer Religion, die man einmal im Leben gemacht haben muss. Dagegen musste ich feststellen, dass die Wallfahrt nach Santiago de Compostela für die meisten Leute eine Reise nach innen ist, auf der sie mit sich selbst in Einklang kommen und sich mit ihrer Vergangenheit versöhnen möchten.
Haben Sie diese Gespräche häufig abends in den Quartieren geführt? Und waren auch junge Leute dabei?
Korchide: Ich habe mich tatsächlich abends in den Quartieren viel mit den Leuten unterhalten und sie nach ihren Motiven gefragt. Das waren häufig Rentner, die sich während ihrer beruflichen Phase stark in ihrem Job engagiert hatten und im Ruhestand in ein Loch gefallen waren. Sie waren auf der Suche nach einem neuen Sinn für ihr Leben. Aber ich habe auch mit jungen Leuten gesprochen, etwa mit einer jungen US-Amerikanerin mit iranischen Eltern, die den Jakobsweg zurücklegte, weil ihr Freund sie verlassen hatte und sie großen Liebeskummer empfand, aber auch darauf hoffte, auf dem Jakobsweg einen neuen Freund kennenzulernen. Wie mir mehrfach versichert worden ist, gibt es heutzutage einige junge Leute, die mit dieser Intention auf dem Jakobsweg unterwegs sind. Es gab also viele Überraschungsmomente auf meinem Weg.
War es für Sie schwierig, jeden Tag ein Quartier zu bekommen? Und war der Weg selbst sehr anstrengend für Sie?
Korchide: Glücklicherweise gibt es heutzutage Apps, über die man vorher einen Platz im Quartier reservieren kann. Und ich muss zugeben, dass ich mehrfach in Hotels übernachtet habe. Der Weg selbst war tatsächlich sehr anstrengend für mich, weil ich gar nicht darauf vorbereitet war, so viele Kilometer mit einem Zehn-Kilo-Rucksack auf dem Rücken zu Fuß zu gehen. Mir tat oft alles weh, und ich hatte manchmal das Gefühl, dass meine Füße nicht mehr in die Schuhe hineinpassen. Mittags war es unterwegs 35 Grad heiß. Das war eine große Herausforderung, aber ich mag Herausforderungen und habe nie daran gedacht, aufzuhören.
Haben Sie auch Pilger getroffen, die auf der Suche nach Gott waren?
Korchide: Ja, ich habe einen Mann von den Philippinen getroffen, der sehr religiös und aus Glaubensgründen unterwegs war. Bei einem gemeinsamen Autounfall vor ein paar Jahren, bei dem er selbst schwer verletzt worden war und seine Frau verloren hatte, hatte er geschworen, dass er sich mit seiner Frau und mit Gott auf den Jakobsweg begeben würde, sobald er selbst wieder würde gehen können. Gott sollte ganz bewusst der Dritte sein, der auf diesem Weg mit dabei ist. Das hat mich tief berührt, denn er pilgerte mit seinen zwei Stöcken nicht, weil es ein Gebot ist, sondern aus Dankbarkeit gegenüber Gott. Das war aber auch der Einzige, der ein religiöses Motiv hatte. Mit einer kleinen Einschränkung allerdings: Ich habe unterwegs ein Paar gesehen, das ganz intensiv nach unten geschaut und möglicherweise gebetet hat. Ich habe aber nicht mit dem Paar gesprochen.
Gab es sonst noch wichtige Erkenntnisse?
Korchide: Ein Lehrer aus den USA, der mit einer Schülergruppe unterwegs war, hat mir sehr zu denken gegeben. Er hat mir gesagt, dass ich „Religion“ oder „religiöse Haltung“ zu eng definiere. Selbstfindung könne, so meinte er, auch Gottfindung sein. Indem ich mich selbst kennenlerne, lerne ich sozusagen auch Gott kennen. Seine Schüler sprächen auch nur von „Wandern“ auf dem Jakobsweg, aber sie testeten ihre Grenzen aus und schauten, wie weit sie gehen und über ihren eigenen Schatten springen könnten. Ab diesem Moment bin ich zu der Erkenntnis gekommen: Das ist doch alles religiös, was die Menschen dazu bewegt, sich auf diesen Pilgerweg zu machen.
Sprechen die Pilger in Mekka überhaupt nicht miteinander? Und gibt es niemanden, der zu Fuß oder auf dem Kamel nach Mekka pilgert?
Korchide: Der Hauptunterschied zum Jakobsweg besteht tatsächlich darin, dass die Mekka-Pilger sich nur mit Gott beschäftigen und mit ihm reden, nicht untereinander. Ich nehme an, dass man in früheren Zeiten, als es noch keine Flugzeuge gab, das Pilgern und die Strecke noch ganz anders wahrgenommen hat. Es gibt immerhin Berichte über Leute, die nach Mekka geritten sind.
Sind Sie am Ende noch in der Kathedrale von Santiago de Compostela gewesen und haben dort den Pilgergottesdienst erlebt?
Korchide: Ja, ich bin mit dem Bus von Sarria nach Santiago gefahren und war geschockt, dass die Fahrt für eine Strecke, für die ich fünf Tage zu Fuß gebraucht hatte, nur fünf Stunden dauerte. In Santiagos Kathedrale habe ich den Pilgergottesdienst mit dem berühmten Weihrauchfass erlebt, aber ich habe keine Urkunde für den zurückgelegten Pilgerweg bekommen, weil ich nicht wusste, dass man sich unterwegs dafür Stempel abholen kann.
Wie war die bisherige Resonanz auf Ihre Schilderungen in Aachen und anderswo?
Korchide: Ich bin überrascht, wie viel Interesse die Menschen an den Erfahrungen eines Muslims auf dem Jakobsweg haben. Das hätte ich nie für möglich gehalten.
Würden Sie den Jakobsweg noch einmal zurücklegen, und dann in der richtigen Richtung?
Korchide: Ja, ich würde das gern irgendwann noch einmal machen, aber dann in einer interreligiösen Gruppe von Muslimen und Christen. Am 6. Juli wollen wir in einer solchen Gruppe zur Probe den westfälischen Jakobsweg ab Telgte gehen. Es wäre auch zu begrüßen, wenn Schulklassen solche kurzen interreligiösen Pilgerwege zurücklegen würden.
Mouhanad Khorchide, Ein Muslim auf dem Jakobsweg: Pilgererfahrungen der anderen Art. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2024