Der Bischof von Aachen, Helmut Dieser, hat davor gewarnt, dass in Deutschland, Europa und weltweit Antisemitismus wieder politisch korrekt gemacht werden soll.
„Als Angehöriger des Volkes, das für die Shoa, den Massenmord an sechs Millionen jüdischen Menschen in Europa, verantwortlich ist, empöre ich mich zutiefst darüber und rufe alle Landsleute auf, niemals mehr Antisemitismus unwidersprochen zu lassen oder gar die zu wählen, die sich nicht überzeugend davon distanzieren“, betonte Dieser am Himmelfahrtstag in seiner Predigt aus Anlass der diesjährigen Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen. „Umso mehr freue ich mich, dass der Internationale Karlspreis 2024 an Pinchas Goldschmidt und die jüdischen Gemeinschaften in Europa dagegen ein unübersehbares Zeichen setzt.“
Ausdrücklich lobte der Bischof, dass der Karlspreis mit den Preisverleihungen der vergangenen drei Jahre weltweit drei unüberhörbare und unaufgebbare Identitätszeichen Europas verbreitet habe.
2022 sei der Karlspreis an die drei belarussischen Bürgerrechtlerinnen Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo gegangen, 2023 sei er an den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, und an das ukrainische Volk verliehen worden, das mehrheitlich nach Europa strebe und sich der Europäischen Union anschließen wolle. „Die akuten Bedrohungen Europas, die mit diesen Preisverleihungen markiert werden, sind weiter aktuell und brandgefährlich.“
In seinen Ausführungen bezeichnete Dieser drei Forderungen, die Pinchas Goldschmidt deswegen an Europa aufgestellt habe, als „unverzichtbar und zukunftsweisend“. Im Blick auf die anstehenden Europawahlen lägen darin sogar drei Qualitätsmerkmale europäischer Politik, die diejenigen erfüllen müssten, die für Europa kandidierten und die umgekehrt den Wählerinnen und Wählern Kriterien für ihre Wahlentscheidung böten. Goldschmidt fordere, dass Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft in Europa ihren Platz finden müssten, der interkulturelle Dialog, die Fähigkeit zur Begegnung und zum vorurteilsfreien Austausch nach Kräften gefördert werden müssten und dass schließlich alle, die in diesen freien Dialog eintreten und an ihm beteiligt sein wollten, niemals die europäischen Werte infrage stellen dürften.
„Es macht unseren diesjährigen Preisträger persönlich so überzeugend, dass er selbst nicht nur diese Forderungen aufstellt, sondern sein ganzes Lebenswerk davon geprägt ist, sie zu verwirklichen“, lobte Dieser. „Je mehr aber seine Forderungen diskutiert und miteinander angestrebt werden, desto mehr schwindet in Europa die Angst vor der Zukunft und die Angst, alles zu verlieren, was Europa ausmacht.“ Gerade solche Ängste seien es, die derzeit Europa von innen bedrohten, weil sie die Verlockungen populistischer Parteien so anziehend machten.
Eine weitere Errungenschaft Europas liegt nach Ansicht Diesers darin, dass heute der Staat in Europa eine religiöse Neutralität angenommen habe, aber religionsfreundlich sei. Beides zusammen mache Europa gegen die Heimatlosigkeiten stark, die von bloßem wachsendem Säkularismus und Pluralismus ausgingen und die die Verführungen der Populisten attraktiv erscheinen ließen. „Als Repräsentant einer der ältesten religiösen Minderheiten in Europa kämpft Pinchas Goldschmidt deshalb für Religionsfreiheit und gegen Einschränkungen religiösen Lebens in Europa“, würdigte Dieser den neuen Preisträger.
„Ja, Europa schöpft aus seinen jüdisch-christlichen Wurzeln“, bekräftigte Dieser. „Denn diese lassen im einzelnen Menschen und im menschlichen Zusammenwirken eine innere Seele entstehen, die nicht nur Heimat in der Gottesbeziehung stiftet, sondern eine eigene innere Verantwortlichkeit hervorbringt und damit echte Freiheit und moralisches Entscheiden ermöglicht.“ Dass dazu unaufgebbare Werte gehörten wie die Unantastbarkeit des Menschenlebens und seine Würde und die Hochachtung der Familie als Keimzelle jeder Gesellschaft, das gehöre nicht nur zu den europäischen Werten, sondern biete Grundlagen für die globale Dialogfähigkeit.
Ausdrücklich fügte der Bischof hinzu: „Jesus von Nazareth, zu dem wir Christen uns bekennen, war Jude, seine ersten Anhänger, die seinen Namen weit über Israel hinaustrugen, ebenfalls. Sein Leben, sein Tod und seine Auferstehung öffnen uns Christen die Tür, um als Nichtjuden dennoch ganz und gar zu dem Gott Israels und zu den Kindern Abrahams zu gehören.“ Israel trage die Berufung seines Gottes, Licht für alle Völker zu sein, merkte Dieser mit Nachdruck an. Als Christ glaube er, dass Gott in dem Juden Jesus und seinem Lebenswerk und im Wirken seines Heiligen Geistes diese universale Berufung Israels geschichtlich unwiderruflich wahrmache. „Ich bin überzeugt: Darin liegen die Grundlagen der tiefsten und weitreichendsten menschlichen Hoffnung“, unterstrich der Bischof.
Karlspreisträger Pinchas Goldschmidt
„Der 9. Mai ist auch: der Tag danach. Tag eins nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Shoa. Eine „Stunde null“ konnte es nicht geben – wie denn? Aber einen neuen Tag, den gab es. Und ein neues Leben, das gibt es. Der 9. Mai ist ein Tag des Neuanfangs, der Hoffnung und des Wiederaufbaus. Auch dafür steht der Karlspreis. Und in diesem Jahr besonders. [...]
Die Geschichte, die Zukunft unseres Kontinents – sie liegt in unserer Hand, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das sollten wir uns bei jedem Gedanken bewusst machen, wenn wir über Krieg und Frieden denken! [...]
Der Karlspreis ist eine Auszeichnung – die verpflichtet! Sie verpflichtet mich, meine Arbeit für unsere Werte, für Versöhnung und Dialog, für Freiheit und Demokratie ungemindert und noch stärker fortzusetzen. [...]
Aber mit der Auszeichnung der jüdischen Gemeinschaft Europas, meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dieser Auszeichnung haben wir uns alle verpflichtet! Denn das Judentum in Europa – eine Gemeinschaft, die vor hundert Jahren aus über zehn Millionen Menschen bestand und heute weniger als eineinhalb Millionen zählt – ist erneut existenziell bedroht. […]
Ich resigniere nicht, ich habe Hoffnung, ich habe Mut und ich habe Vertrauen, meine Damen und Herren, solange ich weiß, dass wir gemeinsam kämpfen!“
Robert Habeck, Vizekanzler
„Die Jury des Karls-preises setzt mit dem Preis an Sie ein Zeichen. Ein Zeichen gegen Antisemitismus. Ein Zeichen dafür, dass jüdisches Denken und jüdisches Leben Europa reicher macht – ja ausmacht. Dass das Judentum „selbstverständlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemitismus sein darf“. Und so sollte es ja sein. Aber wir wissen, Sie wissen, die Jüdinnen und Juden wissen und erleben, dass es anders ist. Wir müssten nicht betonen, dass für Antisemitismus in Europa kein Platz ist, wenn es ihn nicht geben würde. [...]
Das europäische Judentum ist nicht etwas, gegenüber dem Toleranz einzufordern wäre, sondern der Grund der Toleranz. Und Pluralismus und Verständigung beruhen nicht auf der stillschweigenden Übereinkunft zwischen Unterschiedslosen, sondern auf dem geteilten Wissen von Differenzen und Unterschieden. […]
Um vorzugreifen: Das zu leben und politisch zu realisieren, ist die europäische Einigung. „Einheit in Vielfalt“ bedeutet nicht, dass eine Gleichheit unterschiedlich ausgeprägt ist, es bedeutet, dass eine aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, Nationen und geschichtlichen Bezügen gebildete Union Freiheit, Frieden in Freiheit, Demokratie und Menschenrechte als ihr politischen Ziel realisiert.”
Christian Wulff, Bundespräsident a.D.
„Die bestehende globale Ordnung bröckelt gerade. Klima, Kriege und Konflikte mit all ihren Folgen stellen die Welt und unser Europa vor immense und zunehmend mehrschichtige Probleme von lokaler bis globaler Bedeutung. […] Deshalb müssen wir alle in Europa begreifen, dass Jede und Jeder gefordert ist, um diesen Angriffen standzuhalten. Die Lehre aus der Geschichte sollte sein: Lernen wir die Institutionen der Europäischen Union und unsere Demokratie nicht erst in der Not wertzuschätzen, sondern tragen wir jeden Tag aufs Neue dazu bei, dass sie erhalten bleiben und gestärkt werden.”