Wenn an diesem Abend die Wahllokale schließen und die Stimmen gezählt werden, wird noch nicht klar sein, wie die nächste Bundesregierung aussehen wird. Doch klar ist, in der Migrationspolitik wird wohl künftig ein anderer Wind wehen.
Das zeigte schon der Wahlkampf, der fast ausschließlich vom Thema Migration dominiert wurde. Fast alle Parteien übertrafen sich mit Forderungen nach schärferen Grenzkontrollen, nach schnelleren Abschiebeverfahren für Straftäter mit Migrationshintergrund, für Abweisungen von Asylsuchenden ohne Papiere bereits an der Grenze.
Vor allem die AfD, die auf ihrem Parteitag in Riesa vor der Wahl die sogenannte „Remigration“, die millionenfache Abschiebung von Menschen mit Migrationshintergrund, in ihr Programm aufnahm, warb offensiv für eine schärfere Migrationspolitik, auch, wenn die Parteivorsitzenden Timo Chrupalla und Alice Weidel dies bei jüngsten Auftritten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wieder relativierten. In das alles mischten sich in wenigen Monaten vier Anschläge in Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg und zuletzt in München, die die Angst um die Sicherheit schüren. Alle wurden parteipolitisch intrumentalisiert und heizten die Debatte im Wahlkampf noch zusätzlich an.
Was macht solch eine gesllschaftliche und politische Stimmung vor allem mit jungen Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, die hier leben, zur Schule gehen, einen Ausbildungsplatz haben oder darauf hoffen?
Nahe der Josefskirche in Aachen ist die Offene Tür Josefshaus beheimatet. Die meisten Kinder und Jugendlichen, die die Einrichtung in Trägerschaft des KGV Aachen-Ost/Eilendorf besuchen, haben einen Migrationshintergrund. An diesem frühen Mittwochabend ist einiges los. Einige spielen Tischtennis, andere haben sich Controller für die Playstation ausgeliehen und zocken eine Runde, wieder andere tauschen sich über Videos aus, die sie auf Youtube gesehen haben.
Politik ist hier scheinbar weit weg. Fragt man ein wenig unter den Besuchern herum, dann ist die überwiegende Antwort, dass sie sich eigentlich nicht so für Politik interessieren. Auch der elfjährige Max sagt das von sich. „Ich schaue im Internet vor allem Youtube und Instagram“, erzählt er. Das meiste, was er sich ansieht, habe nichts mit Politik zu tun. Doch ab und zu bekomme er schon Videos angezeigt, die politische Inhalte transportieren. Eigentlich, sagt er, berühre ihn das nicht weiter. „Das sind Aufrufe, man solle Alice Weidel wählen, aber auch Werbung für die CDU oder SPD ist dabei“, erzählt er. Doch ein Video hat ihn doch so sehr beschäftigt, dass er gerne darüber reden wollte.
Es ging um die AfD und deren Abschiebepläne, aber auch darum, dass andere Parteien Verschärfungen in der Migrationspolitik fordern. Silvy Crnjavic, stellvertretende Einrichtungsleiterin, erinnert sich: „Er hat gefragt: ,Werden jetzt alle abgeschoben, wenn die AfD gewählt wird?‘. Also haben wir uns zusammengesetzt und haben mal einen Überblick darüber gemacht, was die einzelnen Parteien zu dem dem Thema gesagt haben.“
Auch Einrichtungsleiterin Jenny Darkwah kennt solche Situationen. „Man merkt, dass die aktuelle Stimmung etwas mit den Kindern und Jugendlichen macht, auch, wenn es eher punktuell hochkommt und meistens verdrängt wird.“ In solchen Situationen versuchen die beiden, in persönlichen Gesprächen die Fragen zu beantworten. „Unser Ziel ist die Persönlichkeitsbildung unserer Besucherinnen und Besucher“, betont Sylvie Crnjavic. Sie sollen sich ihre eigene Meinung bilden, also werde neutral über die Fragen gesprochen.
Viele glauben nicht, dass Politik etwas bewirken kann
In der Vergangenheit hat die OT auch an der U-18-Wahl teilgenommen. Auch in diesem Jahr gibt es Infomaterial dazu, doch Jenny Darkwah fällt auf, „dass das Infomaterial wenig kindgerecht verfasst ist“. Auch falle bei den Parteien auf, dass sie Kinder und Jugendliche als politische Zielgruppe kaum auf dem Schirm haben. „Die Antworten der Parteien, die für die U-18-Wahl zu verschiedenen Themenfeldern gegeben werden, klingen alle gut, aber sie sind sehr unkonkret“, sagt Jenny Darkwah. Darum geben auch viele an, nicht an Politik interessiert zu sein oder nicht daran zu glauben, dass Politik etwas bewirken kann.
„Natürlich sagen hier die meisten, dass sie die AfD nicht gut finden“, sagt Sylvie Crnjavic, „aber nur gegen etwas zu sein, reicht nicht.“ Viele, die die OT besuchen, dürfen noch nicht wählen. Diejenigen, die wählen dürfen, hätten oft das Gefühl, dass ihre Stimme nichts bewirke, erzählt Jenny Darkwah. Oft sei da ein Gefühl der Ohnmacht, kein Mitspracherecht zu haben, das Gefühl, nicht gesehen zu werden. Eine Stimmung, die sich auch bei einem 17-jährigen Besucher ausdrückt, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Er empfindet die aktuelle Stimmung als „schlecht. Ich habe die Sprache gelernt, alles gemacht, aber man wird mit anderen in einen Topf geworfen.“
Einige, sagt Sylvie Crnjavic, entwickelten aus diesem Gefühl, nicht gesehen zu werden, eine Rebellions- oder Anti-Haltung. Vermischt mit dem Konsum über die Sozialen Medien und den Vorlieben, die der Algorithmus bei den Klicks errechnet hat, könne es durchaus sein, dass sich der eine oder die andere da auch für die AfD begeistere.
Eine andere Sache, die die beiden Einrichtungsleiterinnen mit Sorge beobachten, ist die, dass sich verschiedene Gruppen mit Migrationshintergrund gegeneinander abzugrenzen versuchen.
Das habe zum Teil etwas mit der aktuellen Stimmung zu tun, zu einem anderen Teil tragen die Kinder und Jugendlichen weiter, was sie in ihrem Elternhaus gelernt haben. Das Team der OT Josefshaus versucht, gegezusteuern, indem es Werte wie Respekt füreinander vermittelt und Besucherinnen und Besucher auch dazu ermutigt, offen über ihre Gefühle zu sprechen. „Wir sagen: ,Du kannst alles ansprechen, aber es geht um das Wie‘“, sagt Jenny Darkwah.
Ihr ist es wichtig, dass die Offenen Türen und die dort geleistete Kinder- und Jugendarbeit in ihrer Bedeutung als außerschulischer Lernort für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen gesehen und wertgeschätzt werden. Doch die Politik konzentriere sich im Bereich Kinder- und Jugendarbeit häufig nur auf Kitas und Schulen.
Für viele der Besucherinnen und Besucher sei die OT wie ein zweites Zuhause, ein Ort, wo sie auch Vertrauen zum Team fassen, über ihre Probleme in der Schule oder im Elternhaus erzählen und sich gegebenenfalls Hilfe holen können.
„Wir begleiten die Kinder und Jugendlichen oft über Jahre“, sagt Jenny Darkwah. Es sei toll, dabei zu beobachten, wie sie sich entwickeln.