An der Seite der Prostituierten

In der Hauptstadt des Partnerlandes Kolumbien helfen Ordensschwestern beim Ausstieg aus der Gewalt

Marta Sánchez hat mit Hilfe von Adveniat den Weg aus der Prostitution geschafft und baut jetzt eine kleine Herberge für Leidensgenossinnen auf. Aus Angst vor ihrem Ex-Mann und Bordellbesitzern möchte die 50-Jährige anonym bleiben. (c) Héctor Collazos/Adveniat
Marta Sánchez hat mit Hilfe von Adveniat den Weg aus der Prostitution geschafft und baut jetzt eine kleine Herberge für Leidensgenossinnen auf. Aus Angst vor ihrem Ex-Mann und Bordellbesitzern möchte die 50-Jährige anonym bleiben.
Datum:
1. Sep. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 36/2020 | Franziska Pröll

Marta Sánchez* bezeichnet sich selbst als „Überlebende“. „Ich bin einem System entkommen, das mir als Frau jegliche Würde geraubt hat“, sagt sie. Jahrelang prostituierte sie sich auf den Straßen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Sie stieg mit fremden Männern ins Bett, ließ zu, dass diese ihren Körper berührten und in ihn eindrangen. Gewollt hat die 50-Jährige das nie. Im Gegenteil: „Ich ekelte mich selbst so sehr an, dass ich mich nur mit Alkohol oder Drogen ertrug.“

Aufgrund der Corona-Ausgangsbeschränkungen ist das sonst so belebte Viertel Santa Fe im Stadtzentrum von Bogotá fast menschenleer. (c) Héctor Collazos/Adveniat
Aufgrund der Corona-Ausgangsbeschränkungen ist das sonst so belebte Viertel Santa Fe im Stadtzentrum von Bogotá fast menschenleer.

Marta hat den Absprung geschafft. Dank einer Gruppe von Ordensschwestern hat sie gelernt, dass es auch anders geht. „Die Schwestern haben mir gezeigt, dass ich für etwas anderes gemacht bin und etwas anderes machen kann, als Männer zu befriedigen.“ 
Unter dem Namen „Red Tamar“ (Netzwerk Tamar) arbeiten die Ordensschwestern seit 15 Jahren mit Mädchen und Frauen, die sich prostituieren. Tamar – so heißt es im Alten Testament – ist von ihrer eigenen Familie missbraucht und verkauft worden. Für Menschen wie Tamar wollen die Ordensschwestern da sein – genau an dem Ort, wo die Frauen sich verwundbar machen. In Bogotá ist das vor allem Santa Fe. Der zentral gelegene Stadtteil ist eines der größten Rotlichtviertel Kolumbiens. Wie eine Umfrage des Stadtrats von Bogotá im Jahr 2019 ergab, sind 23000 Frauen in der Hauptstadt als Sexarbeiterinnen tätig – ein Großteil in Santa Fe. Die Dunkelziffer ist hoch.

Red Tamar verfügt in Santa Fe über ein eigenes Haus mit Büro- und Gemeinschaftsräumen. Mitglieder des Netzwerks empfangen die Frauen dort zu Gesprächen, zum Kochen oder Beten. Während der Corona-Pandemie haben 100 Frauen eine Lebens- und Hygienemittelspende für sich und ihre Familien erhalten, finanziert vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Die Ordensschwestern hoffen, dass die Quarantäne in Bogotá bald enden wird. Sie wollen wieder dorthin zurückkehren, wo man sie vor der Pandemie meistens angetroffen hat: auf die Straße. 

Wegen der Ausgangsbeschränkungen sind laut den Schwestern weniger Menschen in Santa Fe unterwegs als vor der Pandemie. Trotzdem sind die Straßen des Viertels Ende Juli gut besucht. Vor den Bars, Hotels und Bordellen stehen Frauen, die meisten von ihnen dünn bekleidet, außer Schuhen und Leggins tragen sie nur ein Bikinioberteil oder einen BH. Während die Frauen so versuchen, Männer auf sich aufmerksam zu machen, gehen die Schwestern auf sie zu.


Zwangsprostitution und familiäre Gewalt 

Auch wenn ein solches Setting für Gebete oder Gespräche ungewöhnlich ist, begegnen die Frauen ihnen in der Regel offen. „In Kolumbien gibt es nur wenige Menschen, die nicht an Gott glauben oder überhaupt nichts mit ihm anfangen können“, sagt eine Mitarbeiterin von Red Tamar. Genau wie ihre Kolleginnen will sie anonym bleiben. Durch ihre Arbeit bringen sich die Schwestern in Gefahr. Prostitution ist in Kolumbien ein Geschäft, an dem sich viele bereichern. Oft stecken weit verzweigte Netzwerke dahinter. Und es kommt vor, dass Bar- oder Bordellbesitzer enge Verbindungen zu Politikern pflegen. Weil die Schwestern mit ihrer Arbeit immer wieder erreichen, dass Frauen aus der Prostitution aussteigen, ziehen sie den Groll dieser Personen auf sich.

Die Sexarbeit hinter sich zu lassen, das fällt den Frauen aus verschiedenen Gründen schwer. Viele sehen keine andere Möglichkeit, an Geld zu kommen. Aus Angst, die Wohnung nicht mehr bezahlen, den Kühlschrank nicht mehr auffüllen oder der Familie kein Geld mehr schicken zu können, prostituieren sie sich. Gerade Migrantinnen, vor allem aus Venezuela, berichten von solchen Zwängen. Wegen der Wirtschaftskrise in ihrer Heimat sind sie ins benachbarte Kolumbien geflohen, häufig nach Bogotá. 
Marta wurde von ihrem Ehemann zur Prostitution gezwungen. Die beiden kamen jung zusammen. Als Marta noch keine 20 Jahre alt war, begann ihr Mann, sie auf Partys seiner Kollegen zu schleppen. Der Polizist bot sie im Nebenzimmer anderen Männern zum Geschlechtsverkehr an. „Einer nach dem anderen kam rein und verging sich an mir“, sagt Marta. Bei einer der Vergewaltigungen wurde sie schwanger. Bis heute weiß Marta nicht, wer der Vater ihres ersten Sohnes ist.

Ihr Mann nutzte das Kind als Druckmittel. Immer wieder habe er betont, wie viele Bedürfnisse so ein Kind habe – wie teuer seine Versorgung sei. „Du musst etwas dazu beisteuern“, habe ihr Mann gesagt, bevor er Marta in sein Auto zerrte und mit ihr nach Santa Fe fuhr. Der Sohn war da gerade ein paar Monate alt. Die Schwester des Ehemanns passte auf ihn auf, während der Ehemann Marta in ein Bordell brachte. „Er nannte dem Besitzer die Uhrzeit, wann er mich wieder abholen würde, und bat darum, mich im Auge zu behalten“, erzählt Marta. Danach war sie für Stunden im Bordell gefangen. „Ich konnte nicht einmal raus, um frische Luft zu schnappen – bei jedem Versuch fing mich der Türsteher ab.“

So ging das viele Jahre. Marta prostituierte sich, weil ihr Mann sie dazu zwang. Wenn sie sich weigerte, ins Auto zu steigen, drohte er damit, sie zu schlagen. Mehrmals ritzte er ihre Haut mit dem Messer auf. „Viele Stellen meines Körpers sind vernarbt“, sagt Marta.


Neues Selbstbewusstsein, neue Existenz

Dafür schämt sie sich. Als eine der Schwestern von Red Tamar sie auf der Straße zum ersten Mal ansprach, habe sie deshalb schnell einen Pullover übergezogen. Für Marta ist eine Ordensschwester eine Respektsperson. Noch dazu trug die Schwester beim ersten Kontakt ihren Habit. Für Marta markierte also schon ihr Äußeres einen Unterschied zwischen beiden Frauen: „Für mich war es unglaublich, dass jemand wie sie tatsächlich auf jemanden wie mich zukam.“

So wie Marta reagieren viele Frauen – selbst wenn die Schwestern bei ihren Rundgängen in der Regel Jeans und Pullover tragen. „Die meisten Frauen, mit denen wir sprechen, haben das Gefühl für sich selbst und ihren eigenen Wert verloren“, sagt eine der Schwestern.
Beides will Red Tamar sie wieder spüren lassen. Egal, wen sie vor sich haben – die Schwestern sehen mehr als das Äußere. „Wir blicken in sein Inneres, das Herz und die Seele eines Menschen“, betont eine Schwester. Seine sexuelle Identität spielt dabei keine Rolle. Red Tamar arbeitet mit Heterosexuellen genauso wie mit Schwulen, Lesben und Transsexuellen. Für die Mitglieder des Netzwerks ist das kein Widerspruch zu ihrem katholischen Glauben, sondern essenzieller Teil davon. „Am Ende des Lebens wird niemand fragen, wie wir uns sexuell orientiert haben“, sagt eine Schwester. „Was zählt, ist, dass wir geliebt haben.“

Marta hat gelernt, sich selbst wieder zu spüren. Gemeinsam mit Frauen in ähnlicher Situation absolvierte sie einen Kosmetikkurs. Aus persönlichen Gesprächen und Gebeten schöpfte sie den Mut, sich gegen ihren Mann zu wehren: „Ich hatte solche Angst. Ich habe am ganzen Körper gezittert, doch ich habe Nein gesagt – einmal und immer wieder.“ 2013 schlief sie zum letzten Mal gegen ihren Willen mit einem Mann. Im selben Jahr zeigte sie ihren Ehepartner wegen innerfamiliärer Gewalt an. Nicht nur sie selbst, auch ihre beiden Söhne hatte er geschlagen und mit dem Messer attackiert. Eines Tages zertrümmerte er sogar mehrere Geräte in dem Kosmetiksalon, in dem Marta nach ihrer Ausbildung gearbeitet hatte. Sie fing danach an, Schokolade und Kekse auf der Straße zu verkaufen.
Im vergangenen Jahr erreichte sie endlich die Scheidung. Der Mann, der ihr die Würde nahm, musste ausziehen. So ordnete es ein Gericht an. Zum Abschied riss er Bilderrahmen von den Wänden und schlug mit Stühlen um sich. Noch immer sind die Löcher in der Wohnzimmerwand sichtbar. Doch Marta will sie flicken, sobald sie es sich leisten kann. Und dann? Soll ihr Wohnzimmer sich in eine Herberge verwandeln: für Frauen, die versuchen, die Prostitution hinter sich zu lassen. Bei Marta sollen sie Zuflucht finden, solange sie nicht wissen, wohin.

*Name der Protagonistin zu ihrem Schutz geändert.