Wenn alte Menschen Pflege brauchen, muss oft schnell eine Lösung gefunden werden. Laut Statistischem Bundesamt werden über 80 Prozent von ihnen zu Hause gepflegt. Weil Angehörige das oft nicht allein leisten können, stellen sie Frauen aus osteuropäischen Ländern dafür ein. Eine von ihnen ist Maria, die sich in der Region Heinsberg um eine 84-jährige Frau mit Demenz kümmert.
Marias* Tag ist streng durchgetaktet: Um 6.30 Uhr steht sie auf. Ihre erste Pflicht ist es, Hedwig* zu waschen, das Gesicht zu cremen, ihr die Zähne zu putzen und sie zu frisieren. Dann zieht sie ihr frische Wäsche und eine Bluse oder einen Pullover an. „Die Pyjama-Hose lässt Hedwig noch an“, sagt Maria. „Später kommt ein Pflegedienst und zieht ihr die Strümpfe und die Hose an.“
Davor gibt es Frühstück, Hedwig liest an guten Tagen etwas Zeitung, danach legt sie sich nochmal etwas hin. Um 10 Uhr gibt es ein spätes Frühstück mit Obst, um 12 Uhr Mittagessen, danach hält Hedwig ihren Mittagsschlaf, um 15 Uhr gibt es Kaffee und Kuchen, anschließend geht Maria mit Hedwig eine Runde spazieren oder spielt mit ihr Gesellschaftsspiele. „Mensch ärgere dich nicht“ ist Hedwigs Lieblingsspiel. Um 18 Uhr gibt es Abendessen, noch etwas fernsehen und dann geht Hedwig schlafen
Dann könnte auch für Maria der Dienst für den Tag enden. Aber das tut er nicht. Hedwig wacht nachts öfter auf und klingelt nach Maria. „Sie will dann aufstehen“, sagt Maria. „Ihr Schlaf ist unterbrochen. Wenn sie wieder in den Schlaf findet, muss ich damit rechnen, dass Hedwig bald wieder klingelt.“ Es kommt vor, dass Hedwig ab 3 Uhr nachts jede halbe Stunde ruft.
Laut Statistischem Bundesamt waren im Dezember 2021 in Deutschland 4,96 Millionen Menschen pflegebedürftig. Gut 80 Prozent davon werden zu Hause gepflegt: 21 Prozent werden von ambulanten Pflegediensten versorgt, 63 Prozent von Angehörigen. Aber die können die Pflege wegen Berufstätigkeit, räumlicher Distanzen und auch die Verpflichtungen für eigene Kinder nicht immer selbst übernehmen. Oft werden dann Frauen wie Maria aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern engagiert, die sich um die Pflegebedürftigen kümmern. Belastbare Zahlen, wie viele es sind, gibt es nicht. Schätzungen gehen von über 300 000 aus.
Seit vier Jahren kümmert sich Maria um pflegebedürftige Personen. Seit zweieinhalb Jahren ist die 50-Jährige nun bei Hedwig. Sechs Wochen ist sie im Einsatz, dann fährt sie sechs Wochen nach Hause zu ihrer eigenen Familie. In dieser Zeit kümmert sich eine Kollegin um Hedwig. So geht es immer im Wechsel. Gerade steht wieder eine Heimreise an und Maria strahlt, wenn sie davon erzählt, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen mit ihrem Mann, ihren erwachsenen Kindern und dem neunjährigen Enkel freut.
Obwohl sie ihre Arbeit mag, hat sie oft Sehnsucht nach Hause. Ihren 50. Geburtstag hat sie bei Hedwig verbracht, beim Geburtstag ihres Enkels war sie nicht dabei. Wichtige Ereignisse in der Schule, alltägliche Begebenheiten oder ein kleines Familientreffen am Sonntag: Oft finden diese Momente ohne Maria statt. Sie hat zwar regelmäßig per Videotelefonaten Kontakt, aber das ist nicht dasselbe. Wenn Maria davon erzählt, sieht man, wie in ihren Augen Tränen schimmern.
„Maria hat es vergleichsweise noch gut getroffen“, sagt Anna Kobylecka, Seelsorgerin im Kreis Heinsberg. Im Rahmen des Netzwerks Respekt kümmert sich Kobylecka um die Frauen, die in den Haushalten alte Menschen versorgen. „Viele sind ganz isoliert, haben niemanden, mit dem sie sprechen können“, sagt sie. „Manche der Frauen haben nicht einmal ein eigenes Zimmer, in das sie sich zurückziehen können. Sie schlafen mit den alten Menschen, die sie versorgen, in einem Raum.“
Für die Pflege ausgebildet sind diese 24-Stunden-Kräfte nicht. Sie werden als Haushaltshilfen geführt. Dabei geht ihre Arbeit oft weit über das Kochen, Putzen, Bügeln und Einkaufen einer Haushaltshilfe hinaus. Sie waschen die Senioren, geben ihnen Medikamente, helfen ihnen auf die Toilette, füttern sie bei Bedarf. Sie sind 24 Stunden im Dienst. Erlaubt ist das nicht. „Aber wer kontrolliert das?“, fragt Kobylecka.
Auch Maria teilt für Hedwig die Medikamente ein und überwacht die Einnahme. Hedwig ist 84 Jahre alt und hat eine leichte Demenz. „Sie fragt immer nach ihrem Mann, der schon lange tot ist, oder nach ihrer Schwester, die früher im Nachbarhaus gewohnt hat“, sagt Maria. „Die Schwester lebt auch nicht mehr.“ Dass Hedwig an drei Tagen in der Woche zur Tagespflege geht, erleichtert Maria den Alltag. „Dann kann ich die Hausarbeit machen“, sagt sie. An den Wochenenden hat sie vier Stunden frei: zwei am Samstag und zwei am Sonntag. Hedwigs Kinder kommen zu Besuch und übernehmen. Diese Rahmenbedingungen sind nicht alltäglich. Viele 24-Stunden-Kräfte haben kaum Freizeit, weil sie sich immer um die Pflegeperson kümmern müssen. „Es ist die Frage, was für Verträge sie haben“, sagt Kobylecka. „Ob sie überhaupt Verträge haben, denn 24-Stunden-Verträge gibt es nach deutschem Arbeitsrecht nicht.“
Dazu kommt die ewige Unsicherheit. Stirbt die Pflegeperson, verliert die Pflegekraft ihren Job. Schickt die Vermittlungsagentur sie an einen anderen Ort, kann es sein, dass sie sich in einer ganz anderen Region wiederfindet. Wieder ohne vertraute soziale Kontakte. Die müssen dann neu aufgebaut werden. Um das zu erleichtern, sucht Kobylecka die Live-Ins, wie die Pflegekräfte auch genannt werden, gezielt. Sie fragt bei ambulanten Pflegestationen nach ihnen. Auch beim Gottesdienst in polnischer Sprache, der jeden dritten Sonntag im Monat um 15 Uhr in der Kirche St. Aloysius gefeiert, wird, kommt Kobylecka mit den Pflegekräften in Kontakt. Da sie selbst polnisch spricht, fassen die Frauen schnell Vertrauen zu ihr. Nach dem Gottesdienst werden sie zu Kaffee und Kuchen eingeladen. In einem geschützten Rahmen können sie hier über ihre Situation sprechen. Kobyleckas Ziel ist es, die Arbeitsbedingungen für die Frauen zu verbessern. „Wir wollen, dass sie eine gute Arbeit haben und ein gutes Leben“, sagt sie.
Seit August 2023 ist Anna Kobylecka als Pastoralreferentin für das Projekt Netzwerk Respekt beauftragt. Gegründet wurde es 2014 von der Steyler Missionarin Schwester Svitlana Matsiuk. Damals begann sie mit Sprachkursen und Schulungen in häuslicher Pflege. Die Pflegekräfte lernten darin, wie man eine Über- oder Unterzuckerung erkennt, wie man einem Menschen, der gestürzt ist, wieder aufhelfen kann und wie man mit dementen Menschen umgeht.
Auch Maria hat nicht gewusst, wie sie mit Demenz umgehen soll. „Das ist anstrengender als bei einem Kind“, sagt Maria. Vor ein paar Monaten ist Hedwig hingefallen, als sie bei ihren Kindern zu Besuch war. Seitdem braucht sie einen Rollstuhl. „Sie soll nicht alleine aufstehen, macht das aber trotzdem“, sagt Maria. Sie hat Bücher über den Umgang mit dementen Personen gelesen und sich so einiges selbst angeeignet.
Bei Amos hat sie zusammen mit den anderen Frauen deutsche Vokabeln und Grammatik gelernt. Dass sie sich verständlich machen kann, erleichtert vieles. Die meisten kommen ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland und wissen nicht, was sie erwartet. Wenn sie Glück haben, ist ihnen die Person, mit der sie unter einem Dach leben werden, sympathisch – und umgekehrt. Wenn es nicht so gut läuft, waschen und bekochen sie jeden Tag eine Person, die ihnen unangenehm ist. Auch da hatte Maria Glück: Sie mag Hedwig und Hedwig mag Maria.
*Namen von der Redaktion geändert
Infos über das Netzwerk Respekt für 24-Stunden-Pflegekräfte unter www.respectcare.de