„Eschweiler ist gezeichnet“, sagt Diana Nigl, Teamleiterin im Haus St. Josef, in dem Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen ein Zuhause finden. Hier wütete das Hochwasser erheblich. Normalität ist in der 56 000 Einwohner zählenden Stadt immer noch nicht wiederhergestellt. Sechs Schulen und sechs Kindergärten leben mit Provisorien. Geschäftsleute nehmen langsam erst ihren Betrieb wieder auf. Einige „Ureinwohner“ haben
die Stadt ganz verlassen. Auch Diana Nigls 7-köpfige Gruppe „Lichtblicke“ mit Kindern zwischen 8 und 17 Jahren verlor praktisch über Nacht ihr Heim.
Um 12 Uhr am 14. Juli war die Entscheidung für eine Evakuierung des Hauses „Lichtblicke“ beschlossene Sache. „Als der Pegel stieg, hat man sich entschieden, die Kinder schnellstmöglich da rauszuholen“, erzählt der stellvertretende Leiter des Hauses St. Josef in Eschweiler, Robert Wagner, rückblickend. Von da an sind sie nicht mehr in ihr Zuhause zurückgekehrt. Zeit blieb den Kindern und Jugendlichen nur, ihre liebsten Dinge zusammenzusuchen, um Zuflucht im höher gelegenen Haupthaus St. Josef zu finden.
Deftig fallen die Kommentare aus, fragt man die 7-köpfige Wohngemeinschaft „Lichtblicke“ nach ihren Empfindungen zum Verlust ihrer Heimat. Angst dagegen hätten sie nicht gehabt, ist die übereinstimmende Aussage der 8- bis 17-Jährigen. Sie sagen, sie hätten sich sicher gefühlt. Und das, obwohl sich die Inde, die normalerweise idyllisch direkt am Haus vorbeifließt, ihren Weg bereits durch den Garten bis vor die Terrasse gebahnt hatte.
Überraschend findet Diana Nigl die Haltung ihrer Schützlinge nicht wirklich: „Verlässlichkeit und Verbindlichkeit hilft ihnen sehr. Wir haben viel mit ihnen gesprochen. Ich habe das Gefühl, dass die Kinder näher aneinandergerückt sind.“ Das Gefühl der Sicherheit werde durch die Haltung der Mitarbeiter vermittelt, ist auch Robert Wagner überzeugt: „In der Jugendhilfe ist man Kummer gewöhnt. Man arbeitet unter angestrengten Verhältnissen und ist immer mit irgendwelchen Krisennotfällen konfrontiert – die Zusammenarbeit gelingt in einer sehr zupackenden und humorvollen Art. Die Kinder haben gar keine Panik mitbekommen.“ Ein Glück war sicher auch, dass sowohl für „Lichtblicke“ als auch die benachbarte und damit ebenso betroffene Gruppe „Valentin“ schnell Ausweichdomizile gefunden wurden.
Lange überlegt worden war im Vorfeld, berichtet Robert Wagner, ob die Häuser an der Inde gebaut werden sollten, weil früher Eschweiler oft von Hochwasser betroffen war. „Seit Tieferlegung der Inde sei das allerdings nicht mehr vorgekommen.“ So wurde zweieinhalb Jahre gebaut, und im September 2020 konnten die Gruppen endlich einziehen. Nicht einmal ein Jahr lang hielt das Glück. Jetzt steht der komplette Rückbau bis zur Bodenplatte an. Zwar hätten die Häuser keine Keller, aber die ganze Technik liege im ebenerdig betroffenen Geschoss. „Der Schaden ist immens hoch“, sagt der stellvertretende Leiter von Haus St. Josef. Die geschätzte Sanierungs-Baudauer: ein Jahr. Das bedingt natürlich, dass die Heizung wie zugesagt im kommenden Frühling geliefert werden kann. „Dabei haben wir noch Glück gehabt“, gibt Wagner zu bedenken. „Wir sind versichert!“ Ganz anders ginge es manchen Geschäfts- oder Privatleuten. „Außerdem bekommen wir viele Sachspenden, für die wir sehr dankbar sind.“
So ist „Lichtblicke“ im zehn Kilometer entfernten Frenz ausgesprochen gut ausgestattet untergekommen. Es fehlt an nichts, sagt Teamleiterin Diana Nigl. Robert Wagner gerät geradezu ins Schwärmen über das idyllische Pfarrhaus, das an seiner täglichen Joggingstrecke liege und das jetzt weihnachtlichen Schmuck angelegt hat. Gemeinsam mit den Kindern hat das Betreuungsteam um Diana Nigl das Ersatz-Zuhause verschönt. Neuanschaffungen waren notwendig, weil der Fundus aus über 30 Jahren Haustradition im Hochwasser untergegangen ist. Das habe den Kindern sogar Spaß gemacht, erzählt die Teamleiterin schmunzelnd. „Alles wie immer“ heißt ansonsten die Devise. Größtmögliche Normalität verstärkt auch hier das Gefühl der Sicherheit. Zur „Normalität“ in der Vorweihnachtszeit gehören der Besuch des Nikolaus’, der gemeinschaftliche Adventskalender und das Schmücken des Christbaums. Eine Woche vor dem Fest fehlt lediglich noch der bekrönende Stern auf der Spitze.
Stimmung gibt es dennoch reichlich, schon weil auf Initiative von Tina (Name von der Red. geändert) ein eigener kleiner Weihnachtsmarkt von den Lichtblicke-Bewohnern vorbereitet wurde. Das erwachsene Team hat nur unterstützt und flankiert. Die Nachbargruppe „Valentin“ wurde eigens zum Markttreiben eingeladen. Es gab selbstgebrannte Mandeln, Kinderpunsch und Kakao, für Gemütlichkeit sorgte ein offenes Feuer. „Das haben die Kinder mit ganz viel Liebe und Kreativität gemacht“, sagt Nigl nicht ohne Stolz.
Am Weihnachtsmorgen kommen alle 110 Kinder und Jugendliche aus den 12 Gruppen von Haus St. Josef an der Hehlrather Straße zusammen. Wegen Corona entfallen die traditionelle Messe und das Krippenspiel, das die Leitungsteams vorbereiten und in der Kirche St. Antonius Röhe zeigen. Stattdessen ist wohl eine Weihnachtsrallye vorgesehen, bei der es im Freien auch eine Sing-Station geben soll.
Ab mittags gehört dann das Fest den Gruppen: Schon im Vorfeld ist gemeinsam das Menü entschieden worden. Bei „Lichtblicke“ wird es Rinderbraten mit Klößen und als Alternative Spanferkel mit Spätzle geben – mit Rücksichtnahme auf muslimische und indische Kinder. Alles im Blick haben muss man eben. Wenn alles aufgeräumt ist, gibt es die Bescherung. Wer kann, geht nach 16 Uhr dann in die eigene Familie zum Festabend. Lachend erzählt Robert Wagner, dass es mal Beschwerden von Mitarbeitenden gegeben hätte, dass die Dienstzeit zu Weihnachten sich nicht so gut vertragen würde mit der eigenen Familienfeier. Das Angebot, die Weihnachtsfeier auf den 23. zu verlegen, wurde dann nachdrücklich abgelehnt, denn: „Heiligabend ist der schönste Tag im Jahr!“ hätte es geheißen.
Apropos: Die Lichtblicke-Kinder haben diesmal ihre Wunschzettel in Wunschkugeln gepackt, „die auf einmal verschwunden waren… über Nacht“. Diana Nigl zuckt die Schultern und zwinkert verschmitzt. Das „Christkind“, so ist zu erfahren, hat sich offenbar zügig aller Herzenswünsche angenommen. Nur einer, den alle Kinder geäußert haben, wird wohl noch unerfüllt bleiben müssen: Sie wollen „endlich zurück nach Hause“. Denn so schön es in Frenz auch ist, ,zu Hause‘ ist eben an der Inde. „Nur den Zaun sollten wir höher machen wegen dem Hochwasser“, meint Tim (Name von der Red. geändert).