Alleine in der weiten Welt

Wie sich das anfühlt, sein Kind nach der Schule in einen sozialen Auslandsdienst ziehen zu lassen

Helen hat ihre Familie für ein Jahr verlassen, um mit anderen Menschen zu leben und in Sozialprojekten mitzuarbeiten. Ihre Zeit in Afrika ermöglichte ihr vielseitige Erfahrungen mit allen Höhen und Tiefen. Land und Leute, aber auch sich selbst lernte sie in dieser Zeit neu und anders kennen. (c) privat
Helen hat ihre Familie für ein Jahr verlassen, um mit anderen Menschen zu leben und in Sozialprojekten mitzuarbeiten. Ihre Zeit in Afrika ermöglichte ihr vielseitige Erfahrungen mit allen Höhen und Tiefen. Land und Leute, aber auch sich selbst lernte sie in dieser Zeit neu und anders kennen.
Datum:
10. Juli 2018
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 28/2018 | Thomas Hohenschue
Wenn Kinder aufwachsen, ihr Radius sich erweitert, sie selbstständig werden: Immer sind die Eltern gefordert, zu vertrauen und loszulassen. Das ist schon im Alltag oft leichter gesagt als getan.
Jolina hat ihre Familien für ein Jahr verlassen, um mit anderen Menschen zu leben und in Sozialprojekten mitzuarbeiten. Ihre Zeit in Afrika ermöglichte ihr vielseitige Erfahrungen mit allen Höhen und Tiefen. Land und Leute, aber auch sich selbst lernte sie in dieser Zeit neu und anders kennen. (c) privat
Jolina hat ihre Familien für ein Jahr verlassen, um mit anderen Menschen zu leben und in Sozialprojekten mitzuarbeiten. Ihre Zeit in Afrika ermöglichte ihr vielseitige Erfahrungen mit allen Höhen und Tiefen. Land und Leute, aber auch sich selbst lernte sie in dieser Zeit neu und anders kennen.

Umso schwerer fällt das, wenn ein Kind sich entschließt, ganz zu gehen. Zwei Mütter geben Einblick in ihre Erfahrungen, als ihre Töchter in das Abenteuer „Sozialer Dienst in Afrika“ zogen. Dass sich Uschi Hermens und Silke Wehrsig zum Interview mit der KirchenZeitung treffen, ist letzten Endes dem starken Willen ihrer Töchter zu verdanken. „Was Helen sich einmal in den Kopf gesetzt hat, zieht sie durch“, blickt Uschi Hermens zurück. Im Fall ihrer Tochter war das eine Faszination für den afrikanischen Kontinent. „Helen wollte schon immer nach Afrika, bereits als Elfjährige“, erzählt sie. Konkret wurde es dann in der Oberstufe. Helen informierte sich, bewarb sich, zog alles Nötige selbstständig durch, inklusive der zahlreichen Impfungen. „Es gab kein Zurück mehr, sie war ja auch 18“, sagt Uschi Hermens. „Ich konnte nicht Nein sagen, meine Eltern hatten mich schließlich auch reisen lassen.“ Der Kopf sagte auch „Ja“ zum Loslassen – das Herz allerdings zunächst eher nicht.

Eine ähnliche Zerrissenheit zeichnet auch die Gefühlslage bei Silke Wehrsig aus. Irgendwie war klar, dass Jolina nach der Schule ins Ausland geht. Die Familie ist immer gerne gereist, allerdings innerhalb Europas. Jolina wollte weiter weg. Lange war der Plan, „Work and Travel“ in Australien zu machen. Irgendwann kippte das in Richtung „Sozialer Dienst in Afrika“. Für Jolina war das ein wirklich neues Abenteuer, denn Australien ist uns kulturell näher. Für ihre Eltern fühlte es sich allerdings viel weiter weg an als Australien, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Was beiden Müttern Vertrauen schenkte, war die gute Vorbereitung durch das Netzwerk von Organisationen, die den Einsatz verantworten und begleiten. Wie aber der Einsatz selbst erlebt wird, hängt von Personen und Situationen vor Ort ab, erläutert Uta Hillermann, die für den Verein „Sozialer Dienst für Frieden und Versöhnung im Bistum Aachen“ (SDFV) Freiwillige und ihre Familien durch die Zeit begleitet. Krisen gehören dazu und genauso die gute Erfahrung, dass sie in der Regel bewältigt werden.

Als Helen dann ins Flugzeug stieg, hatte ihre Mutter die Zuversicht: Die schafft das schon. „Ich bewundere dich, dass du das machst“, habe sie ihrer Tochter vor dem Abflug gesagt, erzählt Uschi Hermens. Und die Erfahrung zeigte: Helen geht tatsächlich durch, zäh und hart. Da schimmert mütterlicher Stolz durch, verwebt mit der staunenden Erkenntnis: „Die werden richtig selbstständig.“ Für Silke Wehrsig überwiegt im Rückblick der Abschiedsschmerz. Ihre Tochter als innige Vertraute im Alltag fehlt ihr sehr. Als ein Sohn fragte: „Kommt Jolina Weihnachten?“, musste sie Nein sagen. Das fühlte sich nicht gut an. Andererseits sah sie, wie ihre Tochter bei den Vorbereitungskursen aufblühte, beseelt und bereichert nach Hause kam. Die Sorgen um die Sicherheit und Gesundheit von Jolina in Afrika waren für Silke Wehrsig im Vorhinein ein großes Thema und blieben es. Dass andere Eltern für das Ganze wenig Verständnis zeigten, machte das Loslassen nicht einfacher und mehrte ihr Unbehagen. „Hast du das erlaubt?“ „Muss das denn so weit weg sein?“ „Ach, du Arme.“ All das bekam Silke Wehrsig zu hören.

Als die Abschiede geschafft waren, die Töchter in Afrika lebten, galt es den Alltag neu zu gestalten. Dank Internet gab es gleich wieder Kontakt. Smartphones ermöglichen eine Verbindung über Kontinente hinweg, mit allen Chancen und Herausforderungen. Einerseits ist es wichtig, dass sich die Freiwilligen selbst zurechtfinden. Andererseits braucht es auch die Verbindung zu vertrauten Menschen, vor allem, wenn es nicht rundläuft. Das Heimweh ist das größte Problem. Bei Jolina kam neben der kulturellen Umstellung hinzu, dass sie die Reise mit einer akuten Fußverletzung antreten musste, deren Behandlung in Afrika für Silke Wehrsig nicht einschätzbar war. So blieb sie im Austausch mit Jolina und signalisierte auch, dass ein Abbruch des Einsatzes okay wäre. Aber wieder zeigte sich die Stärke der Töchter: Sie gingen da durch. Uschi Hermens erfuhr irgendwann, dass Helen bei großen Schwierigkeiten nicht ihre Mutter kontaktierte, sondern ihre beste Freundin.

Wenn die beiden Mütter die Fotos durchstöbern, die sie übers Handy erhalten haben, müssen sie öfter lachen. Und sie lächeln in sich hinein. Was ist bloß aus den Kleinen geworden, die in die weite Welt gezogen sind? Sie erleben Dinge, die sie bisher nicht kannten. Sie tun Dinge, die sie bisher nicht taten. Kühe melken und Hühner rupfen zum Beispiel. Die hierarchische Struktur in einer traditionellen Familie kennenlernen. Hinter der rauhen Schale des Alltags das Leben entdecken. Und bei allem auch noch Sinnvolles mit Kindern, Jugendlichen, Menschen mit Behinderung tun. Uta Hillermann weiß um alle Schwierigkeiten, die Freiwillige und ihre Familien bestehen müssen. Aber genau darum geht es: „Es ist ein Lernprojekt, kein Urlaub“, sagt sie. Wer 2019 ein Soziales Jahr im Ausland machen möchte, sollte sich jetzt informieren. Gelegenheit ist am 22. September von 11 bis 15 Uhr im Jugendcafé pinu‘u, Buchkremerstraße 4 in Aachen, beim Informationstag des SDFV.

Mehr unter www.friedensdienste-aachen.de.

Freiwilliges Jahr im Ausland

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