40 Kilometer gegen das Vergessen

Mit dem Fahrrad zu Gedenkstätten der NS-Verfolgung im Kreis Düren

Gedenkstätten Fahrt (c) Stephan Johnen
Gedenkstätten Fahrt
Datum:
21. Juli 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 29-30/2024 | Stephan Johnen

Lange Zeit war es den meisten Menschen außerhalb des Ortes nicht bewusst – und von denen, die es noch wussten, wollten die meisten nicht darüber sprechen: Während des Zweiten Weltkriegs gab es in Arnoldsweiler bei Düren ein NS-Zwangsarbeiterlager, das mit etwa 30 Baracken das zweitgrößte im Rheinland war. 

Im Verlauf des Krieges wurden von dort aus überwiegend russische und polnische Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf sogenannte Arbeitskommandos verteilt – bis nach Jülich, Monschau und Schleiden. Mindestens 1500 Menschen starben aufgrund der menschenverachtenden Behandlung. Die Dimensionen dieses ehemaligen Lagers werden einem erst bewusst, wenn man Teile des damaligen Areals, das mittlerweile größtenteils überbaut ist, mit dem Fahrrad umrundet.

Das in der NS-Terminologie als „Stalag VI G/Z“ bezeichnete Lager ist die dritte Station einer Fahrradwallfahrt zu Gedenkstätten der NS-Verfolgung im Kreis Düren, zu der Anfang Juni erstmals der Katholikenrat der Region Düren in Kooperation mit dem DGB Kreisverband Düren-Jülich und der IGBCE-Ortsgruppe Düren eingeladen hatte. Start- und Zielpunkt der rund 40 Kilometer langen Rundstrecke war die Kirche in Echtz, Station wurde an den vom Aktionskünstler Gunter Demnig verlegten Stolpersteinen, den Stelen des Künstlers Ulrich Rückriem, die an NS-Unrechtsorte erinnern, Mahnmalen und Gedenkstätten gemacht. Wer sich in der Ferienzeit erneut auf den Weg machen möchte, kann dies auch auf eigene Faust tun (siehe Infokasten).

„Die 1920er- und die 1930er-Jahre waren eine unruhige Zeit, die Menschen haben nach Perspektiven gesucht. Die Situation ist nicht unbedingt hundertprozentig vergleichbar, aber auch heute sind viele auf der Suche nach Perspektiven“, rief Pfarrer Ralf Linnartz, geistlicher Beirat des Katholikenrates, in Erinnerung, dass damals die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus von vielen Menschen nicht ernst genommen wurde. Ein Fehler, der sich nicht noch einmal in der Geschichte wiederholen dürfe. „Darum wollen wir mit anderen Bündnispartnern bewusst erinnern, welche Folgen diese Fehleinschätzung damals hatte. Und wir werden aktiv, damit solch ein Gedankengut nicht erneut politische und gesellschaftliche Macht bekommt“, betonte Ralf Linnartz. Es sei eine tief im Glauben verwurzelte Haltung, Geschichte kritisch in den Blick zu nehmen.

Aus vielen kleinen Mosaiksteinen ergibt sich entlang der Fahrradroute, die überwiegend über Feldwege von Ort zu Ort führt, wie schnell, konsequent und vor allem rücksichtslos die Nationalsozialisten nach 1933 ihre Macht sicherten und Kritiker sowie Gegner isolierten, mundtot machten oder töteten. Die Rückriem-Stele vor dem ehemaligen Amt Birkesdorf, Station 2 auf der Tour, erinnert beispielsweise an die ersten Monate nach der „Machtübernahme“. Während dieser Zeit wurde das alte Rathaus zum Ausgangspunkt für eine unerbittliche Verfolgung der Gegner des Nazi-Regimes.

Birkesdorf hatte als traditioneller Industriestandort eine gut organisierte Arbeiterschaft und eine starke Ortsgruppe des 1931 gegründeten „Kampfbundes gegen den Faschismus“. Eine Gefahr für die Nationalsozialisten. Gleich zu Beginn der NS-Terrorherrschaft wurden daher die führenden Köpfe der Kommunisten und Sozialisten in „Schutzhaft“ genommen, nach und nach wurden auch Sozialdemokraten und andere Oppositionelle verhaftet, zeitweise waren in den Schutzhaft- und Konzentrationslagern bis zu 50 Birkesdorfer eingesperrt. Ein Vorgehen, das sich systematisch in vielen Orten wiederholte. Vor dem Haus Nummer 6 in der Straße „Kömpchen“ erinnert ein Stolperstein an das Schicksal  von Ludwig Henzig, der am 3. September 1944 mit sieben weiteren Mitbürgern wegen deren „Einstellung zum Nationalsozialismus“ in das Gestapo-Gefängnis nach Aachen kam. Über das sogenannte Messelager Köln wurde Henzig ins KZ deportiert und ermordet.

Im weiteren Verlauf der Radtour, gleich in Sichtweite der sogenannten „Tagebaurandstraße“, steht ein Stück vom Fahrradweg entfernt in einem Wäldchen ein vom Volksmund „Russenkreuz“ getauftes Holzkreuz. Es erinnert an die rund 1500 Toten aus dem Arnoldsweiler Lager, die von der Wachmannschaft auf der Merzenicher Heide in einem Massengrab begraben wurden. Es ist davon auszugehen, dass ungezählte weitere Opfer rund um das Lager verscharrt wurden.

Als im Sommer 1960 die Toten exhumiert wurden, wurde das wahre Ausmaß des Massensterbens in Arnoldsweiler bekannt. Statt der geschätzten 500 wurden über 1500 Tote umgebettet. Das Kreuz erinnert noch an das Massengrab, das schnell wieder in Vergessenheit geriet. Die Aufarbeitung des ungemütlichen Themas Zwangsarbeit und Kriegsgefangenenlager geht auf eine Initiative der IGBCE-Ortsgruppe Düren und des DGB-Kreisverbands Düren-Jülich aus dem Jahr 2015 zurück. Nach umfangreichen Recherchen wurde 2016 eine Wanderausstellung konzipiert, die seitdem über dieses dunkle Kapitel der Zeitgeschichte informiert und kontinuierlich weiterentwickelt wird.

Auch in Jülich gibt es einen Ort (Iktebach), der lange Zeit vergessen war, bis 1985 „Pax Christi“ dort ein Gedenkkreuz im orthodoxen Stil errichtete. Dieses Kreuz ist ebenfalls eine Wegmarke der Radtour. Von 1941 bis 1944 bestand dort, neben dem ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk Jülich-Süd (dem heutigen Instandsetzungswerk der Bundeswehr), ein Kriegsgefangenen- und Arbeitslager. Wie viele Menschen dort starben, ist ungeklärt, da die Unterlagen bei den Zerstörungen Ende des Zweiten Weltkriegs verloren gingen. Bei einem Luftangriff auf das Ausbesserungswerk und das angeschlossene Lager kamen laut Chronik der Stadt Jülich am 29. September 1944 „120 bis 400 Menschen“ ums Leben. Den zu diesem Zeitpunkt 1500 Kriegsgefangenen im Lager war der Zugang zu Schutzräumen untersagt; laut Augenzeugenberichten standen Baracken in Flammen, gab es Verwundete, verstümmelte Leichen – ein Bild des Schreckens. 

Route

(c) Stephan Johnen

Unter dem Motto „Gemeinsam erinnern. Für eine Zukunft in Frieden, Freiheit und Würde“ fand die Fahrradwallfahrt erstmals statt. Aufgrund des großen Interesses überlegen die Organisatoren, eine erneute Tour anzubieten. Bis es soweit ist, können sich Radfahrer (mit Unterstützung von Google Maps) selbst auf den Weg machen. Der QR-Code führt zur Wegbeschreibung. Auskunft zu den einzelnen Stationen gibt es per E-Mail an: jochen.ostlaender@bistum-aachen.de. 

Stationen und Eindrücke der Gedenkstätten-Radtour

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