Gefahr einer Chancen-Krise

Menschen mit Behinderung schützen, ohne sie gesellschaftlich auszugrenzen, bleibt eine Herausforderung

Während der Werkstattschließung sind die Anleiter in die Wohnheime gegangen, um den Menschen dort eine Beschäftigung zu geben. (c) CBW
Während der Werkstattschließung sind die Anleiter in die Wohnheime gegangen, um den Menschen dort eine Beschäftigung zu geben.
Datum:
3. Nov. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 45/2020 | Andrea Thomas

Deutschland fährt wieder runter. Steigende Infektionszahlen und Einschränkungen des  öffentlichen Lebens wecken Erinnerungen an das Frühjahr. Auch bei vielen Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen sowie den Menschen, die sie betreuen und begleiten. Es ist die Sorge vor dem Virus auf der einen und die Sorge vor der sozialen Vereinsamung auf der anderen Seite.

Abstand halten ohne auszugrenzen: Kerstin Konzer im Speisesaal der CBW in Eschweiler. (c) Andrea Thomas
Abstand halten ohne auszugrenzen: Kerstin Konzer im Speisesaal der CBW in Eschweiler.

„Das war für viele eine ganz furchtbare, schlimme Zeit, als die Werkstätten schließen mussten“, berichtet Kerstin Konzer, Vorsitzende des Gesamtwerkstattrats der Caritas-Betriebs- und Werkstätten GmbH (CBW) in der Städteregion Aachen. Sie selbst habe zum Glück ein gutes häusliches Umfeld und es auch geschafft, sich in dieser Zeit selbst eine Tagesstruktur zu schaffen. Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen hätten das nicht. Sie hätten Eltern, die mit der Situation überfordert seien, lebten im Wohnheim, wo sie in der Zeit nur mit wenigen Kontakt haben konnten, und vermissten ihre Tagesstruktur. „Die Werkstatt ist ein ganz wichtiger Ort, wo man seine Freunde trifft, seelisch aufgefangen wird, wenn es zu Hause Probleme gibt.“ Auch eine Beschäftigung zu haben, sei wichtig, gerade in einer so schwierigen Zeit. „Werkstatt ist mehr als nur Arbeit“, unterstreicht auch Fredi Gärtner, Leiter der Sozialen Dienste der CBW.

Als Vorsitzender der diözesanen Arbeitsgemeinschaft (DiAG) Eingliederungshilfe setzt er sich auch mit der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auseinander. Statt einem Mehr an Teilhabe erleben Menschen mit Behinderung in der Corona-Krise aber das Gegenteil: Um sie zu schützen (viele gehören zur Risikogruppe), wurden und werden Angebote – und damit auch Kontakte und Teilnahme am Alltagsleben – stark eingeschränkt, bis hin zur Werkstattschließung und Abschottung der Wohnheime. Andreas Wittrahm, Leiter Facharbeit und Sozialpolitik beim Diözesan-Caritasverband, spricht noch einen weiteren Aspekt an, der die Situation so belastend für Menschen mit Behinderung macht. „In einer Pandemie kann man nur ,auf Sicht fahren‘, weil man nicht weiß, was in der nächsten Woche ist. Das ist für Menschen mit einer Behinderung sehr schwierig, weil sie einen festen Rahmen und Sicherheit brauchen.“

Das alles erlebt auch Gudrun Jörißen, Einrichtungsleitung des Vinzenz-Heims in Aachen und im Vorstand der DiAG Eingliederungshilfe. „Vieles musste ausfallen, was den Menschen wichtig ist und ihnen innerhalb des Jahres Struktur gibt. Auch viele Angebote, die die Familien entlasten“, berichtet sie und nennt als Beispiele die familienunterstützenden Dienste und das Kurzzeitwohnen. Beides stehe auch jetzt wieder auf der Kippe. Auch für die Menschen, die im Vinzenz-Heim leben, war und ist die Situation schwierig: Eingeschränkte Kontakte heißt, keine Besuche der benachbarten Wohngruppen, keine Familienbesuche – und dann auch noch keine Werkstatt und Schule. Soweit, so hoffen alle, soll es in den nächsten Wochen möglichst nicht wieder kommen.

Seit Ende September arbeiten in den Werkstätten der CBW fast alle 1300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung wieder. Dazu haben die Verantwortlichen umfassende Vorkehrungen getroffen. „Wir haben in Absprache mit den örtlichen Gesundheitsämtern kreative und neue Wege beschritten“, erläutert Fredi Gärtner. Unter anderem werden gewohnte Gruppen geteilt und zusätzliche Räume genutzt, die Abstände in den Speisesälen vergrößert und Tische mit Plexiglas-Trennscheiben versehen. Der Kontakt zu besonders gefährdeten Personen wurde telefonisch, per E-Mail sowie über die sozialen Medien gehalten. Die AHAL-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüften) werden konsequent umgesetzt.

 

Passgenaue Lösungen finden

„Diese Regeln haben für Menschen aus Risikogruppen, zu denen auch Menschen mit Behinderung zählen, eine ungleich größere Bedeutung. Der Infektionsschutz kann nur dann Erfolg haben, wenn in der Gesellschaft einerseits und den Wohnheimen und Werkstätten andererseits die Möglichkeiten geschaffen werden, die Regeln einzuhalten“, erklärt Frank Pinner, Fachreferent für Eingliederungshilfe beim Caritasverband für das Bistum Aachen. In der Praxis gestaltet sich das mitunter schwierig. Was tun, wenn nicht genügend Platz für alle vorhanden ist, um Abstände einhalten zu können? Wie geht Quarantäne im Wohnheim, zum Beispiel mit Menschen mit geistiger Behinderung? Um hier individuelle und passgenaue Lösungen zu finden, setzen die Einrichtungen in der Städteregion Aachen auch auf den Austausch mit Gesundheitsdezernent Michael Ziemons. 

Der ist froh, dass der so gut funktioniert. Im Bereich der Eingliederungshilfen hätten Menschen nochmal anders mit dem, was das Virus uns abverlangt, zu kämpfen. Listen abzuarbeiten funktioniere hier nicht, weil viele Dinge individuell sehr verschieden seien. Aus seiner Sicht müssten daher auch die Allgemeinverfügungen differenzierter verfasst sein, was das Land aber erst einmal gestoppt habe. Auch das BTHG empfindet er in der Coronazeit eher als „Hemmschuh“. „Das Virus verlangt nach pragmatischen Lösungen, was in einer zergliederten Struktur nicht funktioniert.“ Mit steigenden Infektionszahlen steigt auch der Bedarf nach Tests. Doch können die mehr Sicherheit und Teilhabe ermöglichen? Eine Frage, die auch die Verantwortlichen im Bereich der Eingliederungshilfe beschäftigt. „Reguläre Tests kommen zum Einsatz, wo es Fälle gibt. Schnelltests da, wo noch keine positiven Fälle sind“, skizziert Michael Ziemons den Ablauf. Einrichtungen, die ein Testkonzept erstellt hätten, dürften dann auch Schnelltests kaufen und einsetzen. Für die richtige Handhabung gibt es spezielle Schulungsvideos. Soweit die gute Nachricht. Die weniger gute: Schnelltests sind derzeit kaum noch zu bekommen. Aus Sicht von Michael Ziemons kommt es daher umso mehr auf die konsequente Einhaltung der AHAL-Regeln an.

Vor allen lägen weitere harte und herausfordernde Wochen, sind sich die Verantwortlichen einig, nicht alle Einschnitte und auch nicht alle Risiken ließen sich vermeiden. Doch die Corona-Pandemie dürfe „nicht zu einer fundamentalen Chancen-Krise für Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung werden“, wie Fredi Gärtner betont. „Die Einrichtungen müssen aus den Konsequenzen, die sich für sie aus der Krisenzeit ergeben, Impulse für die Eingliederungshilfe der Zukunft ableiten.“