Eine Bilanz mit Licht und Schatten

Wo steht das Bistum Aachen ein Jahr nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie?

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Datum:
19. Nov. 2019
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 47/2019 | Thomas Hohenschue

Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Bistum Aachen ist im vollen Gange. Zugleich bleibt sie an entscheidender Stelle stecken. So lautet die Quintessenz eines Abends, bei dem die Ungeduld und die Unzufriedenheit vieler kirchlicher Mitglieder und Mitarbeiter mit Händen zu greifen waren. Sie erwarten und vermissen einen beherzten Umgang mit den systemischen Ursachen für Missbrauch, welche Forscher der katholischen Kirche ins Stammbuch geschrieben haben.

Wenn in einer Verwaltung ein Thema nicht verlorengehen soll, bekommen die dazugehörigen Akten den Vermerk „Zur Wiedervorlage“. Dass nun die erschütternde MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker bereits ein Jahr veröffentlicht ist, gab der Aachener Bischöflichen Akademie den Anlass und Rahmen für eine offene Aussprache. Was ist im Bistum Aachen seitdem geschehen, was ist nicht geschehen? Was wird geschehen? Und was wird wohl eher nicht geschehen?

Im Mittelpunkt des Geschehens an der Leonhardstraße standen als Zuständige der Diözese Generalvikar Andreas Frick und seine weisungsunabhängige Mitarbeiterin Alexandra Schiffers. Sie ist Referentin für die strategische Aufarbeitung der MHG-Studie. Beide können aus rechtlichen Gründen nicht über alles sprechen, was sie tun. Viele Gespräche und Verhandlungen, die sie führen, genießen einen Vertrauensschutz. Alexandra Schiffers schätzte den entsprechenden Anteil an ihrer Gesamttätigkeit auf 80 Prozent. Angesichts dessen, dass die Öffentlichkeit Transparenz über die Aufarbeitung einfordert, ist das ein Umstand, der ihre Glaubwürdigkeit unterläuft, ohne dass sie daran etwas ändern kann oder will.

Die zögerliche Zurückhaltung in der Offenlegung dessen, was passiert, ist das eine. Das Thema ist keines, das sich für Jubelmeldungen eignet. Und doch gehört das ein oder andere gesehen und gehört, damit man eine redliche Zwischenbilanz der Aufarbeitung ziehen kann. Fragmente davon kamen in der Bischöflichen Akademie zur Sprache, so dass sich ein differenziertes Bild beschreiben lässt. Was ist also geschehen? Im Fokus der Aufarbeitung im Bistum Aachen steht die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Einer weisungsunabhängigen externen Stelle, konkret einer Rechtsanwaltskanzlei, sind mehr als 80 Personalakten übergeben worden. Die Experten werten nun  31 000 Seiten Papier aus. Sie führen eigenständige Ermittlungen, wo sich Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch und für dessen Vertuschen durch Vorgesetzte und Verantwortliche ergeben. Sie interviewen Beteiligte bis in höchste Ränge hinein und machen sich ein exaktes Bild davon, wo früher der Schutz der Institution vor dem Schutz der Opfer stand. 

Das soll ohne Schonung offengelegt werden, betonte Generalvikar Andreas Frick. Was aus diesem Teil der Aufarbeitung entsteht, was die Untersuchung der zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte ergibt, wird er bis zu dem Moment der  öffentlichen Präsentation durch die Kanzlei nicht wissen. Terminiert ist dieser Moment, den er mit Bischof Helmut Dieser gemeinsam bewältigen wird, auf das zweite Quartal des kommenden Jahres. Aber eines möchte er schon jetzt vermuten: dass danach die Bistumsgeschichte umgeschrieben werden muss. „Sich ehrlich machen“, nannte Andreas Frick das Ganze. Überhaupt warb er in der Akademie um Vertrauen, verwies darauf, dass nun flächendeckend unabhängige Anlaufstellen im Bistum etabliert wurden, zehn Stück an der Zahl. Und seine Worte, dass die Diözese den Präventionsgedanken stetig forciert und vertieft mit enormen Aufwand, bezweifelte niemand im Saal.

Es war wohl kaum jemand unter den rund 100 Gästen, der nicht eine solche Schulung durchlaufen hat oder an einem institutionellen Schutzkonzept mitgewirkt hat. Dieser Teil der Prävention, der auf das Verhalten von Einzelpersonen und die örtlichen Bedingungen von Einrichtungen abhebt, ist allgemein anerkannt als glaubwürdiges Bemühen um die Vermeidung von Übergriffen. Aber mit dem anderen Teil von Prävention, dem, der sich ganz glasklar aus der MHG-Studie ergeben hat, steht es nicht zum Besten. Alexandra Schiffers skizzierte zu Beginn die Grundmuster der Täter: eine mögliche pädophile Präferenzstörung, ein soziopathischer inadäquater Machtmissbrauch, eine defizitäre persönliche und sexuelle Entwicklung. Die Forscher leiteten daraus Empfehlungen ab, die kirchlichen Strukturen und Abläufe zu verbessern, damit diese Grundmuster weniger zum Zuge kommen.

Als vorrangige systemische Ursache für den massiven Missbrauch von Menschen im Raum der Kirche wird in der Öffentlichkeit ein Klerikalismus debattiert, der geistlich überhöht im Alltag der Institution schaltet und waltet, ohne angemessen kontrolliert und legitimiert zu werden. Im Zentrum stehen die mächtigen Männer. Als glaubwürdiger Gast, der diesen Mechanismus einer zerstörerischen kirchlichen Kultur aus eigener leidvoller Erfahrung bezeugte, sprach die ehemalige Ordensfrau Doris Reisinger über geistlichen Missbrauch. Dieser gehe oft dem sexuellen Missbrauch voraus, ebne ihm den Weg. Aber er stelle auch eine eigene Form des Machtmissbrauchs dar: Menschen unzulässig zu manipulieren, zu binden, zu verführen, zu kontrollieren mit Verweis auf das Göttliche, auf die besondere Stellung des Geistlichen, den Auftrag durch den Heiligen Geist, die Drohkulisse des Fegefeuers, der göttlichen Vergeltung für Sünden und, und, und. Reisinger erkannte wenig Willen in vielen Kirchenleitungen, sich diesem Thema offen zuzuwenden.

Wer die Aussprache in der Akademie verfolgte, ging mit dem Eindruck nach Hause, dass es im Bistum Aachen auch nicht viel besser um diesen Strang der Prävention bestellt ist. Zwar unterstrich Generalvikar Andreas Frick, dass man über alles zu reden bereit sei, auch im Zusammenspiel mit dem Synodalen Weg, der bald auf Bundesebene über exakt diese Fragen beraten wird. Aber sein Unbehagen an der Forderung, die Verfasstheit der Kirche weiterzuentwickeln in Richtung einer demokratisierten, gewaltenteilig kontrollierten, geschlechtergerechten Körperschaft, war deutlich zu spüren. Und so wird wohl wieder ein Vermerk an das schmerzliche Thema kommen, der da lautet: „Zur Wiedervorlage“. 

Wo steht das Bistum Aachen?

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