Die Spuren, die erinnern

Vor 83 Jahren zerstörten Christen die Gotteshäuser ihrer jüdischen Nachbarn – auch auf dem Land

Das Tor zum jüdischen Friedhof in Lentholt, einem Teil von Schwanenberg. (c) Garnet Manecke
Das Tor zum jüdischen Friedhof in Lentholt, einem Teil von Schwanenberg.
Datum:
2. Nov. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 44/2021 | Garnet Manecke

Ihre Haare hat Betty kinnlang getragen. Eine Spange hielt sie aus dem Gesicht. Die Welt sah Betty durch eine dunkel umrandete runde Brille. Ihr Lächeln lässt auf eine Person schließen, die die Welt von ihrer heiteren Seite sieht. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir“, hören junge Frauen in ihrem Alter oft. Für Betty galt der Satz nicht. Auf sie wartete ein grausamer Tod in der Gaskammer.  

Der Grabstein für Jacob und Johanna Hertz. Er erinnert auch an Betty Reis (c) Garnet Manecke
Der Grabstein für Jacob und Johanna Hertz. Er erinnert auch an Betty Reis

Betty Reis starb im November 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie wurde nur 23 Jahre alt. Heute erinnert noch eine Inschrift auf einem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Wassenberg an sie. Der Schatten eines kanadischen Ahorn fällt auf das Grabmal. Der Baum ist in Toronto auf dem Grundstück von Walter Reis gewachsen. Bettys Bruder entkam den Nazis, weil er nach England flüchten konnte.

Wer den jüdischen Friedhof in Wassenberg sucht, vertut sich schnell: Das niedrige Tor ist unverschlossen, der Friedhof schon lange verlassen. Aber die Grabsteine sehen anders aus als erwartet, das letzte Todesdatum ist im Jahr 1973 und dann sieht man das Kreuz. Der jüdische Friedhof ist auf dem Nachbargrundstück. Tor und Hecke dort sind höher, zu den Grabmälern führen ein paar Stufen in den hinteren Teil. Auf den Grabsteinen liegen kleine Steine, die nach jüdischer Tradition an die Toten erinnern.

Am 9. November wird wieder an die Pogrome 1938 erinnert, bei denen jüdische Geschäfte und Synagogen in Deutschland zerstört wurden. Historische Bilder zeigen brennende Synagogen und zerbrochene Fensterscheiben in Großstädten. Aber auch auf dem Land haben Christen die Gotteshäuser und Geschäfte ihrer jüdischen Nachbarn zerstört. Wer sich aufmacht, findet einige Spuren, die daran erinnern, dass es auch auf den Dörfern jüdische Gemeinden gab. Auffallend: Gerade Friedhöfe liegen so versteckt, dass man sie aktiv suchen muss, um sie zu finden.

Wer käme heute noch darauf, dass es in Schwanenberg bis 1938 eine Synagoge gab? Ein Bild von ihr sucht man vergebens. Im Stadtarchiv Erkelenz findet sich aber noch ein Plan von 1866. In Schwanenberg selbst erinnert der „Jüdische Friedhof“ daran, dass es in dem Ort eine jüdische Gemeinde gab. Vom ursprünglichen Friedhof ist nichts mehr übrig. Er wurde in der Pogromnacht zerstört, die Grabsteine sollen für den Straßenbau verwendet worden sein. 23 Frauen, Männer und Kinder jüdischen Glaubens wurden Opfer des Holocaust. Wie viele Juden zur Schwanenberger Gemeinde gehörten, ist nicht mehr bekannt.

Im Vergleich zu anderen jüdischen Friedhöfen ist der in Schwanenberg fast leicht zu finden. Wer über die kleine Straße aus Richtung Genhof kommt, fährt direkt auf ihn zu. Kurz vor dem Ortsschild in Lentholt, einem Teil Schwanenbergs, liegt er auf der rechten Seite. 1959 wurde er mit einer Buchenhecke umsäumt und ist nun eine Gedenkstätte. Der Davidstern und der siebenarmige Leuchter im Tor sowie eine Tafel weisen darauf hin. Der Platz ist eine Station der „Route gegen das Vergessen“ in Erkelenz.

Die Erkelenzer Synagoge steckte man nicht in Brand: Sie lag zu nah an anderen Häusern

Der jüdische Friedhof in Randerath liegt sehr versteckt. (c) Garnet Manecke
Der jüdische Friedhof in Randerath liegt sehr versteckt.

Auch der frühere Standort der Synagoge in Erkelenz ist eine Station der Route. In der Patersgasse erinnert eine Gedenktafel an das Gotteshaus. 75 Juden lebten 1933 in der Stadt, als die Nazis nach der Macht griffen. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert, Mitglieder der SA und SS postierten sich davor und hinderten Kunden daran, die Geschäfte zu betreten. Bei der Zerstörung der Synagoge wurde sie nicht angezündet, weil sie zu nah an anderen Gebäuden stand. Es wurde befürchtet, dass Flammen auf die Nachbargebäude übergreifen könnten. „Die Juden des Kreises Erkelenz wurden in Schutzhaft 
genommen“, schrieb das „Erkelenzer Kreisblatt“ in seiner Ausgabe vom 12. November 1938. Eine Fotografie zeigt noch den Dachreiter der Synagoge, aufgenommen aus einem Fenster in einem der Nachbarhäuser.

Wie ein Warnruf aus der Vergangenheit ist der Besuch des jüdischen Friedhofs in Randerath. Er liegt, wie so viele seiner Art, sehr versteckt. Von der Straße Sandberg führt ein unscheinbarer Weg über einige Treppenstufen eine Anhöhe zwischen zwei Grundstücken hinauf. Der Weg über einen Graspfad wird vom Gebell des Hundes auf dem Nachbargrundstück zur Linken begleitet. Das niedrige Tor zum Friedhof lässt sich nicht mehr öffnen: die Klinke steckt fest, das Schloss hat sich verklemmt. Auf dem Rückweg entdeckt man auf dem anderen Nachbargrundstück ein historisches Motorrad mit dem Eisernen Kreuz auf dem Tank.

Wer sich mit offenen Augen umschaut, sieht und findet die Zeichen, dass jüdisches Leben in Deutschland zum Alltag gehörte. Betty Reis wurde in der Nacht vom 9. November verhaftet. Zwei Tage misshandelten und folterten Angehörige der SA sie. Im November 1944 wurde sie deportiert. Ihr genaues Todesdatum ist nicht bekannt. Betty war eine von sechs Millionen jüdischen Frauen, Männern und Kindern, die von den Nazis und ihren Unterstützern ermordet wurden.