Das Leben gerät ins Wanken

Seuchen gab es schon in der Antike – wie ist man damals damit umgegangen?

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Datum:
31. Mai 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 22/2021

Hermann Krüssel, Lehrer für Latein und katholische Religion am Bischöflichen Pius-Gymnasium Aachen, hat sich für die Jahresschrift des Vereins „Pro lingua latina“ mit der Beschreibung von Seuchen in Schriften der Antike beschäftigt und dabei interessante Parallelen zu Corona entdeckt.

Hermann Krüssel. (c) Siedler & Litgens
Hermann Krüssel.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen? War die Corona-Pandemie ein Auslöser?

Seuchen hat es, soweit wir das in historischen Quellen nachverfolgen können, zu allen Zeiten der Menschheit gegeben. Wir lebten bis zum Frühjahr 2020 in einer Zeit, in der Pest oder Pocken der Vergangenheit und das Ebola-Virus anderen Kontinenten angehörten. Ein Onkel von mir  überlebte den Zweiten Weltkrieg, brachte aber die Tuberkulose mit und steckte seine Brüder an. Die Brüder überlebten, er selbst und seine Mutter starben an der Tuberkulose. Lange her, doch plötzlich waren wir von heute auf morgen selbst persönlich bedroht. Wie viele andere habe ich die schrecklichen Bilder aus Bergamo gesehen. Es gab viele Fragen, und vor allem war es eine völlig neue Situation in unserem so sicheren Deutschland. Ich fragte mich, wie man in anderen Zeiten mit einer solchen Situation umgegangen ist, und interessierte mich dafür, wie es gleichsam anfing mit der Beobachtung einer tödlichen Seuche. 

 

Welche Schriften haben Sie ausgewertet? Was hat Sie daran besonders fasziniert?

Wie gesagt, ich wollte so weit wie möglich zurück, und als klassischer Philologe stieß ich vor bis ins fünfte Jahrhundert vor Christus. Als erster hat Thukydides (460/454–400 v. Chr.) in griechischer Sprache eine Seuche beschrieben: die attische Seuche oder Seuche von Athen in den Jahren 430 bis 426 v. Chr. Welche Seuche es war, weiß man nicht. Man liest von mindestens 29 Deutungen! Thukydides ist selbst an der Seuche erkrankt, hat sie überlebt und hat dann – übrigens als erster Schriftsteller – festgestellt, dass er kein zweites Mal erkrankte. Ein Geschichtsschreiber hat also die Immunität erkannt! Und dann hat er als „Vater der Seuchenbeschreibung“ seine Beobachtungen in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg festgehalten. In der lateinischen Literatur hat Lukrez (98–55 v. Chr.) diese Seuche beschrieben und damit sein Werk „De rerum natura“ abgeschlossen. Während Thukydides eher nüchtern, aber mit einer faszinierenden Beobachtungsgabe die Krankheitsphänomene beschreibt, versucht Lukrez die Ursachen zu entdecken. Seine Beschreibung lässt den Leser in einer sehr beklemmenden Stimmung zurück. Ovid (43 v. Chr. – 17/18 n. Chr.) verlegt in seinen „Metamorphosen“ diese Seuche ins 13. Jahrhundert v. Chr. und erklärt sie als eine von Juno gesandte göttliche Pest als Reaktion eines göttlichen Zorns. 

 

Welche Parallelen zur aktuellen Corona-Pandemie lassen sich in den Texten finden?

Dann schauen wir mal auf den etwa 30-jährigen Augenzeugen Thukydides: Vager, unbekannter Ausbruch in weiter Ferne in einem anderen Kontinent (vielleicht Äthiopien), Einschleppung über die Häfen (Athens Hafenstadt Piräus), alle Gesellschaftsschichten waren gefährdet, selbst gesündeste Menschen wurden in der dicht gedrängten Stadt plötzlich befallen: hohes Fieber, starker Husten, unregelmäßiger Atem, ein inneres Feuer, das keine Berührung von Kleidung zulassen will, völlige Entkräftung, Tod nach sechs bis acht Tagen. Doch mehr als die Aufzählung dieser Phänomene lassen die Begleitumstände nachdenklich werden: Gerade Ärzte und pflegende Angehörige starben zunächst aus anfänglicher Unkenntnis und ohne Schutzmaßnahmen. Dann starben Menschen völlig vereinsamt, weil sie keinen Besuch mehr bekamen. Feierliche Bestattungen waren nicht mehr möglich, man warf Leichen sogar auf fremde Scheiterhaufen oder zündete diese an, bevor die für diesen Scheiterhaufen vorgesehenen Toten herbeigeschafft wurden. Kein Abschied, keine würdevolle Bestattung. Überhaupt: Verschwörungstheorien, Feindbilder, Kriminalität, Verlust der staatlichen Autorität, Zusammenbruch des sozialen Lebens bis zur Sittenlosigkeit. Und hier sieht man dann doch einen Unterschied: Der Staat mag auch heute angefeindet werden, aber er schafft es bei allen Problemen, das Volk gesittet, zivilisiert durch die Pandemie zu führen. Es gab übrigens auch eine zweite Welle: Im fünften Kriegsjahr flammte die Seuche für ein ganzes Jahr wieder heftig auf.

 

Können wir aus den antiken Beschreibungen etwas für unseren Umgang mit Covid-19 lernen? Und zum Umgang mit Verschwörungstheorien, die es im Umfeld von Seuchen ja wohl damals auch schon gab.

Verschwörungstheorien scheinen tatsächlich immer wieder für Erklärungen herangezogen worden zu sein. In Athen war es der böse Feind, der die Brunnen vergiftet haben soll. Was wir lernen können, ist vor allem: Aufklärung. Es darf nicht bei der Beobachtung (wie bei Thukydides) stehen bleiben. Man muss die Lehren daraus ziehen: rasche Überwachung, Quarantäne, Maßnahmen zur sozialen Distanzierung, kontrolliertes Einreisen, gerade im Anfangsstadium. In Athen konnte die Seuche fünf Jahre wüten. Wir sind heute gebildeter und hoffentlich dem Virus bald überlegen. – Ich bin übrigens nicht sehr glücklich über die Bezeichnung „Querdenker“. Ich vermisse die Bereitschaft und vielleicht auch die Fähigkeit vieler Querdenker, über die erste Silbe („quer“) hinaus zu denken. Die Beschäftigung mit den sogenannten Querdenkern ist eher ein Fall für den Verfassungsschutz als für eine übermäßige Medienpräsenz. 

 

Lässt sich aus dem Blick auf Seuchen der Vergangenheit auch so etwas wie Mut für unsere derzeitige Situation schöpfen oder ist das doch eher desillusionierend?

Bei Lukrez bleibt nur eine absolute Mutlosigkeit. Seine Schilderung, seine Ursachenforschung lässt an Tröpfchen und Aerosole denken, an eine Infektionskrankheit, die durch die Luft übertragen wird. Es klingt wie eine Prophezeiung der Coronatoten: „Sobald dann Siechtum bringend direkt durch den Schlund den Brustkorb erfüllte die Kraft, zur Betrübnis ins Herz floss den Kranken, da wankten in der Tat dann alle Riegel des Lebens.“ Lukrez erweist sich als Anhänger Epikurs. Todesfurcht ist zwecklos, die Götter haben nichts mit der Epidemie zu tun, da es sie ja gar nicht gibt. Lukrez mahnt zur Furchtlosigkeit auch vor dem Sterben, das eine bessere Alternative als das Dahinsiechen des Körpers aus lauter Gier nach dem Leben sei. Letztlich bietet er aber doch für viele eine furchtbare Lektüre.

Aber bleiben wir mal bei der Frage, ob eine Seuche überhaupt ein göttliches Strafgericht ist. Im Buch Exodus findet man für das 12. Jahrhundert v. Chr. unter den zehn Plagen Ägyptens auch zwei Seuchen: eine Tierseuche und eine aus Geschwüren bestehende Plage für Mensch und Tier, mit denen die Ägypter beziehungsweise der Pharao, so die Deutung der Schriftsteller, bestraft und gezüchtigt werden sollten. Was das theologische Denken einer Bestrafung durch Gott für schuldhaftes Tun der Menschen angeht, so räumt das Buch Hiob mit diesen Vorstellungen auf. Es kann auch Leid geben, ohne dass der Mensch gesündigt hat. Wegen des fehlenden medizinischen Wissens blieb den Menschen nur übrig, dass die Infizierten „unrein, unrein“ schrien, um andere zu warnen. Und infolgedessen wurden die Kranken isoliert, ausgegrenzt, sozusagen in die Quarantäne geschickt. Das Neue Testament erwähnt die Pest nur noch in der Offenbarung des Johannes. Kein Wunder, zeigt doch das Neue Testament Gottes Geist eines auch unverdienten Neuanfangs und einer unendlichen Liebe. So schöpfe ich Mut und Hoffnung aus dem Wirken Jesu Christi. Jesus wendet sich gerade den Kranken zu, er isoliert sie nicht, sondern holt sie in das gesellschaftliche Leben zurück. Die Frage nach dem Auftauchen eines Virus wird nicht gestellt, es geht einzig um die Zuwendung zu den Kranken. Liebe und Bildung – das macht den Menschen, macht den Christen aus. Liebe und Bildung – der einzig sinnvolle Weg in der Pandemie. 
 


Das Gespräch führte Andrea Thomas. 


Weitere Information: www.pro-lingua-latina.de

Seuchen in der Antike: Die Zeitzeugen

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