Blick von zwei Seiten

Seelsorge und Medizin beschäftigen sich mit dem Menschen. Ein Jahr Corona. Eine Bestandsaufnahme

Wenn die Tage dunkel sind, suchen die Menschen nach Licht und Trost. (c) www.pixabay.com
Wenn die Tage dunkel sind, suchen die Menschen nach Licht und Trost.
Datum:
9. März 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 10/2021

Psyche ist die griechische Bezeichnung für Seele, und doch sind ein Psychiater und ein Seelsorger Menschen mit ganz unterschiedlichen Aufgaben. Die Psyche bezeichnet die Gesamtheit aller geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen. Aber die Seele umfasst zusätzlich transzendente Elemente, sie ist Träger des Lebens. Mit dem Seelsorger und Regionalvikar der Region Eifel, Philipp Cuck, und Bodo Müller, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Birkesdorfer St.-Marienhospital, sprach Dorothée Schenk über die Pandemie und welche Auswirkungen Corona auf Seele und Psyche der Menschen hat.

>> Die persönliche Erfahrung

Regionalvikar Philipp Cuck. (c) ProfiPress
Regionalvikar Philipp Cuck.

Philipp Cuck:     Manchmal wache ich morgens auf und denke, ich erwache aus einem Albtraum – und auf der anderen Seite fühle ich mich so, als ob es immer so gewesen wäre. Zwischen diesen beiden Gemütslagen befinde ich mich. Persönlich werde ich in vielem ausgebremst, sowohl was mein privates Leben als auch meinen Beruf angeht. Ich liebe meine Doppelkopf-Runde oder ich gehe gerne mit Freunden essen – das fehlt mir. Ich habe mehr Freizeit als sonst und mache eine Erfahrung, die gar nicht gut für mich ist: Je mehr Freizeit ich habe, desto weniger schaffe ich nebenher.

Bodo Müller:    Für mich als Privatperson ist die Situation schon etwas unwirklich, weil ich als ärztlicher Direktor immer lange Tage habe. Da hat sich seit Beginn der Pandemie nicht so viel verändert. Aschermittwoch 2020 war die erste Krisenstabsitzung, dann haben wir uns täglich getroffen und auch am Wochenende ausgetauscht. Das wurde erst Ende Mai gelockert. Es ist so unwirklich, weil es diejenigen gibt, die im Lockdown gar nichts tun können. Privat fällt das Essen gehen aus, persönliches soziales Engagement auch, aber familiär hat sich wenig geändert, außer dass man vielleicht enger zusammengerückt ist. Zum Freizeitausgleich fahre ich weiterhin Mountainbike, lese gerne oder höre Musik.

>> Die berufliche Erfahrung

Philipp Cuck:    Als Seelsorger erlebe ich – sowohl als Regionalvikar als auch als GdG-Leiter – Haltungen zwischen den Polen, dass Menschen sagen, „es ist alles erstunken und erlogen“, bis zu Menschen, die sagen, „wie können Sie es wagen, die Kirche aufzumachen?“ Wir halten uns an die Vereinbarung der Bischöfe in Nordrhein-Westfalen und bieten Gottesdienste unter Coronabedingungen an. Eine Gemeinde hat das Recht auf Eucharistie – ich darf es nur unter schwierigen Umständen verweigern. Was ich als sehr befreiend empfinde: Die Menschen, die in die Kirche kommen, kommen aus eigenem Antrieb. Fast immer sind alle möglichen Plätze besetzt. Ich rede freier, oft predige ich ohne Konzept. Das ist ein angenehmes Feiern mit der Gemeinde, und ich bin immer bestrebt, dass sie – getröstet ist vielleicht ein zu großes Wort – aber doch fröhlicher oder befreiter aus der Kirche geht. Ich fordere in den Gottesdiensten die Menschen auf, sich umzuschauen, und sage: „Hier treffen Sie Menschen. Geben Sie jedem und jeder das Gefühl: ,Ich denke an Dich.‘“ In kleinerem Rahmen rücken die Menschen so näher aneinander. Was ich im Alltäglichen zunehmend merke: Man wird ungeduldiger und mürrischer, fordernder, saurer. Der Wunsch nach Kontakten ist viel stärker.

Bodo Müller:    Ich betreue Patienten aus allen Gesellschaftsschichten und kann sagen: Die Belastung in den Familien ist immens. Wir haben einen erheblichen Anteil an Alleinerziehenden, die, wenn sie arbeiten dürfen, gucken müssen, wie sie Kinderversorgung, Homeschooling und Berufstätigkeit vereinbart bekommen. Die Eltern sind deutlich gereizter, nicht mehr so empathisch ihrem Kind gegenüber, weil sie so sehr belastet sind. Alles, was wir im Sinne von Achtsamkeit kennen – also die Frage „Was kann ich für mich tun, damit es mir gut geht?“, was im psychiatrischen Bereich so wichtig ist – kann man nur sehr begrenzt wahrnehmen. Stolz bin ich darauf, dass wir unsere zwei Tageskliniken und die große Ambulanz keinen Tag geschlossen hatten und sich innerhalb der Abteilung weder Patienten noch Mitarbeiter mit dem Coronavirus angesteckt haben. Durch Quarantäne oder Infekte hatten wir 2020 18 Prozent weniger Behandlungstage in den Tageskliniken als 2019. In der Ambulanz ist eine leichte Steigerung der Fallzahlen um etwa fünf Prozent zu beobachten. Es sind auch weniger Termine ausgefallen. 

>> Die Folgen

Kinder- und Jugendpsychiater Bodo Müller. (c) Josefs-Gesellschaft
Kinder- und Jugendpsychiater Bodo Müller.

Philipp Cuck:   Die soziale Bindung der Menschen ist hier in der Eifel schon enger und die Einsamkeit weniger groß als in einer Großstadt. Trotzdem ist man mehr allein. Es gibt Menschen, da ist der einzige Kontakt der Pflegedienst, der morgens die Wickel wechselt. Auch beim Krankenbesuchsdienst hat sich einiges geändert: Früher bekamen Kranke einen Brief, dass sie Besuch bekommen. Jetzt müssen die Kranken sich melden, wenn sie einen Besuch wünschen. Außerdem beobachte ich, dass sich die Kirchenaustrittswelle spürbar erhöht hat. Sonst sind es Junge, die keine Bindung an die Kirche haben, die austreten. Jetzt sind es solche um die 60 Jahre, die ich gut kenne. Ich schreibe jedem einen sehr freundlichen Brief und bitte ihn, wenn er möchte, zu reagieren. Und es reagieren welche. Genannt werden zwei Gründe: die Kölner Verhältnisse und wirtschaftliche Nöte. Oft ist es so, dass die Familie katholisch bleibt, dem Vater gekündigt worden ist und die Familie sich dann die Kirchensteuer spart.

Bodo Müller:    Wir nehmen mehr Ängste wahr, Trennungsängste – Kinder, die sich nicht aus dem Haus trauen, Angst haben, sich anzustecken, oder Zwänge entwickeln, zum Beispiel beim Händewaschen. Das mündet zum Teil in depressive Symptomatiken: Sie haben zu nichts mehr Lust, da ist Traurigkeit, Antriebslosigkeit. Es gibt mehr Fälle von Essstörungen – einerseits Gewichtszunahme, aber vor allem auch die Magersucht nimmt zu. Wir führen dies vor allem bei letzterer darauf zurück, dass ein soziales Regulativ fehlt. Teilweise tritt auch vermehrt Aggressivität auf – meist bei Jungs, sie reagieren eher expansiv. Bei der Kinderschutzgruppe sind die Fallzahlen nicht gestiegen, aber es gibt deutlich weniger „Vorstellungen“ bei Jugendlichen ab 12 Jahren. Da kann man jetzt spekulieren, ob es eine gewisse Dunkelziffer gibt, weil dies eine Altersklasse ist, die nicht gesehen wird. 

>> Gibt es Parallelen?

Philipp Cuck:    Die Situation erinnert mich an die Kinderlähmungswelle, als wir keinen Sportunterricht machen durften und uns in einer besonderen Flüssigkeit die Hände waschen mussten. Das war auch eine Welle, die Angst machte. Allerdings nicht so wie jetzt. Immer wieder tauchen Formulierung auf von „Corona als Strafe Gottes“. Ich bin auch studierter Biologe und sage den Menschen: Gott hat uns die Natur geschenkt, damit wir sie pfleglich behandeln und in seinem Sinne nutzen. Wir machen sie kaputt, und sie wehrt sich jetzt. Insofern hat es etwas mit Gott zu tun: Sein Geschenk wird von uns zerstört, aber die Natur ist stark genug, sich zu wehren.

Bodo Müller:    Wir kennen Naturereignisse als Auslöser für Psychotraumatisierung, von der die Gesamtbevölkerung betroffen ist. Das gilt auch für die Pandemie. Als Fachtherapeuten kommen wir derzeit mit unseren therapeutischen Ansätzen an unsere Grenzen. Wichtig für eine Heilung ist ja immer, wieder Normalität zu erleben, Struktur zu entwickeln, soziale Kontakte aufzunehmen. Das ist mindestens so wichtig wie Ernährung und körperliches Wohlbefinden. Je länger dieser Ausnahme-Zustand besteht, desto schwerer ist es, in eine gewisse Normalität hinein zu kommen. Das kann gravierende Folgen haben, sogar dass Menschen im Leben scheitern, keinen Schulabschluss machen, irgendwann übergewichtig werden und sozial isoliert sind. Jetzt wird es zum Glück nicht allen so gehen, weil wir auch von einer gewissen Resilienz ausgehen. Aber wir sehen die Entwicklung mit großer Sorge und vermutlich erst die Spitze des Eisbergs.